"Waaas??". Lars konnte es nicht glauben. Er war erschüttert und tiefe Betroffenheit machte sich in ihm breit. Das alles schien so seltsam. So unwirklich. Warum? Auch Lars' Mutter sprach mit gedämpfter Stimme und schien mit der Neuigkeit, die sie ziemlich schnell erfahren hatte, als sie gekommen war, nicht gut zurechtzukommen. Lars schloss, dass ihr durch dieses Geschehnis noch einmal erneut klargeworden war, wie erst die Sache eigentlich war und auch ihm wurde ganz kalt, wenn er daran dachte, dass mit ihm das Gleiche passieren könnte. Im gleichen Moment musste er wieder an seine Überlegungen der letzten Zeit denken. Wo würde der Junge jetzt wohl sein? Lars hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen und doch war er in der gleichen Situation gewesen. Seine Mutter hatte bisher noch keinen Namen genannt, also hackte Lars nach. "Benjamin.", sagte sie leise und blickte kurz bedauernd nach unten. "Ich hab ihn nur einmal ganz kurz gesehen, als ich den Gang entlanggelaufen bin um eine DVD für dich zu holen. Der kleine Junge war gerade mit wackeligen Beinen in seinem Gitterbett gestanden und gelacht." Lars Mutter hielt inne und räusperte sich vernehmlich. Lars wusste nicht, was er sagen sollte. Die Tatsache, dass ein Mensch gerade einmal sein zweites Lebensjahr erreicht hatte, war mehr als schrecklich für ihn und ließ ihn zweifeln, dass es einen lieben Gott im Himmel gab. Sollte dieser denn nicht auf seine Kinder aufpassen und sie beschützen? Andererseits, vielleicht ging es dem Jungen dort oben im Himmel ja viel besser und war nun viel glücklicher. Genauso wie Lars war seine Mutter tief in ihren Gedanken versunken und merkte nicht, dass sein Sohn sie eingehend betrachtete. "An was denkst du gerade?", fragte Lars ohne jegliche Hemmungen. Es dauerte einige Sekunden bis seine Mutter reagierte, aber sie tat es. "Entschuldige Lars, was hast du eben gesagt?", gab sie etwas verwirrt von sich und lächelte dann wie es eine Mutter eben tat, wenn sie mit ihren Kindern sprach. "Ich wollte wissen, an was du gerade gedacht hast?", wiederholte Lars und richtete sich ein wenig auf. "Äh naja, um ehrlich zu sein, an Mehreres.", sagte sie und schien dann abzuwägen, was sie ihm davon erzählen sollte. Sie fing erneut an zu sprechen, diesmal mit ruhiger und sicherer Stimme. "Ich dachte nur, was gewesen wäre, wenn dir das plötzlich passiert wäre - mitten in der Nacht, wie aus heiterem Himmel." Sie seufzte laut hörbar und fuhr sich müde wirkend durch die Haare. "Glaubst du denn, dass Benjamin jetzt im Himmel ist?", wollte Lars wissen. "Er war ja noch ein Kind, natürlich ist er im Himmel.", versicherte seine Mutter ihm schnell und lächelte tröstend und ein wenig zuversichtlich. "Hm, dann ist es doch vielleicht sogar viel besser für den Kleinen, oder? Ich meine, wenn es ihm hier auf der Erde nur schlecht gegangen wäre...". Lars wurde von seiner Mutter unterbrochen. "Aber Lars, so etwas darfst du nicht sagen. Denk doch mal an die Eltern, Geschwister und Verwandte, die damit jetzt klar kommen müssen. Außerdem wäre der Junge ja vielleicht auch wieder gesund geworden." Lars machte ein schuldbewusstes Gesicht und schwieg. Das Gesicht seiner Mutter wurde daraufhin etwas weicher. "Tut mit Leid Lars, ich meine du hast ja sogar ein wenig Recht. Laut dem, was ich erfahren habe, ist Benjamin seit seiner Geburt krank gewesen und hat die meiste Zeit nur in Krankenhäusern verbracht. Eine Aussicht auf Gesundheit war auch noch lange nicht in Sicht und keiner wusste wirklich, was mit ihm werden sollte.", gab sie zu und biss sich auf die Lippen. "Und was wenn es gar keinen Himmel und Gott gibt?", fragte Lars nun ins Blaue hinein und wollte endlich eine ehrliche und keine Standardantwort bekommen. Seine gegenübersitzende Mutter machte zuerst einen erschrockenden Eindruck über Lars Aussage, schien dann jedoch darüber nachzudenken. "Ich weiß es nicht Lars, ich weiß es nicht.", war alles was sie herausbrachte. "Warum interessiert das denn überhaupt niemanden?", rief Lars nun wütend. "Papa hat auch keine wirkliche Meinung dazu und ihm ist es anscheinend auch egal." Die Augen seiner Mutter weiteten sich merklich und sie staunte über Lars starken Gefühlsausbruch. "Was ist wenn ich sterbe? Ist es euch dann auch völlig egal wo ich bin?", verlangte Lars nun energisch nach einer Antwort. Die gerade vorbeilaufende Nadja blickte verwundert zu ihm herein, lief dann allerdings weiter, als hätte sie nichts gehört. Lars' Mutter stand auf und setzte sich neben ihn auf das Bett. Beruhigend strich sie ihm über den Kopf und versuchte ihren Sohn zu beschwichtigen. "Du wirst nicht sterben.", redete sie sanft auf ihn ein und versuchte damit gleichzeitig auch sich selbst du beruhigen. "Woher willst du das wissen?", erwiderte Lars nur wenig ruhiger. "Ich weiß es einfach. Du bist ein starker Junge. Alles wird gut werden.", versicherte sie ihm mit einem festen Vertrauen in der Stimme.
Obwohl es Lars gesundheitlich an diesem Tag sehr gut ging, war dies mit Abstand der schlimmste Tag bisher in seiner Behandlungszeit, die nun schon fast vier Wochen andauerte. Lars lag mit einer dunklen Gewitterwolke über seinem Kopf da und wollte nichts sehen und nichts hören. Seine Stimmung war auf den Tiefpunkt und egal was seine Mutter auch sagte, er zeigte keine große Regung. Auch wenn der Zehnjährige sich sicher war, dass der nächste Morgen wieder bessere Stimmung bringen würde, hatte er das Gefühl, sein Pessimismus und Trübseligkeit ließen nicht nach. Zu alldem regnete es heute auch noch wie aus Kübeln und man hörte das laute Prasseln auf dem Dach. Seltsamerweise hatte es aber eine beruhigende Wirkung auf Lars und ließ in wieder klar denken. Außerdem - was nützte ihm schon gutes Wetter? Zwar konnte er die wunderschönen Sonnenstrahlen sehen, die außen vom Fenster in die Station fielen, fühlen konnte er sie nicht. Lars wunderte sich selbst über seine aufkommende Schadenfreude gegenüber seinen Freunden. Wenigstens würden sie heute ebenfalls nicht draußen sein und etwas zusammen unternehmen. Gleich danach tat ihm seine Boshaftigkeit jedoch wieder Leid und er verbannte Gedanken dieser Art aus seinem Kopf. Wie so oft las seine Mutter und rührte sich dabei nicht von der Stelle. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes an ihr Buch gefesselt und schien auch nicht aus ihrer Fantasiewelt auftauchen zu wollen. Verstehen konnte Lars es, der Tag hatte nun wirklich keine Momente der Freude geboten, an denen man sich stärken konnte.
DU LIEST GERADE
The kids at station 7
Short StoryEin ganz normaler Arztterim, dachte er. Schulfrei und eine entspannte Autofahrt nach Ulm, in der er auf dem Handy seiner Mutter ein Spiel spielen durfte. Man würde nur seine Fingernägel genauer unter die Lupe nehmen, mehr nicht. Die gehasste Doppels...