Lars fühlte sich wieder wie ein Kleinkind, das zu müde zum Laufen war und deshalb getragen werden musste, doch seltsamerweise gefiel ihm das Gefühl in den starken Armen seines Vaters zu liegen, auch wenn seine Hände und sein aufgeschürftes Knie höllisch brannten. Wie hatte das nur passieren können? Seine Beine waren einfach eingeknickt - kraftlos und ohne jegliche Spannung. Sein Vater überquerte gerade eiligen Schrittes die Straße, auf deren gegenüberliegenden Seite die großen Krankenhauskomplexe standen. Einige Leute schauten teils besorgt, teils verdutzt in seine Richtung, den Jungen kümmerte das allerdings nicht. Er kannte diese Menschen hier nicht und sowieso - er hatte eine eindeutige Berechtigung als Zehnjähriger in den Armen seines Vaters zu liegen.
"Soll ich wieder selber laufen?", fragte Lars zerknirscht, als er merkte, dass sein Vater auf den Treppen ins Schnaufen kam. "Geht schon, wir habens ja gleich geschafft.", erwiderte dieser und stapfte kräftig weiter. Ihm war anzumerken, dass er nervös war. Es war seine Verantwortung, was mit Lars geschah und nun hatte er sich verletzt. Was würden wohl die Krankenschwestern und Ärzte sagen?
Auf Station sieben war zu diesem Zeitpunkt mal wieder ein großes Hin und Her. Jeder und jede schien es eilig zu haben, so dass Lars und sein Vater vorerst gar nicht bemerkt wurden. Schon bald jedoch steuerte eine der eher kräftigeren Krankenschwestern auf die Beiden zu und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. "Was ist denn mit Lars passiert?", wollte sie misstrauisch und etwas besorgt wissen, da dieser noch immer in den Armen seines Vaters lag. "Nun ja.", rückte der Vater heraus. "Lars ist beim Spazierengehen gestürzt und hat sich die Hände und sein Knie ein wenig aufgeschürft.", sprach er die Wahrheit aus und biss sich auf seine Lippen. Die Augen der Frau vor ihm weiteten sich und ihr Mund begann sich für eine Antwort zu öffnen. Lars' Vater setzte allerdings noch etwas hinzu. "Es tut mir Leid. Ich denke, ich habe seine Kräfte ein wenig überschützt. Mir hätte klar sein müssen, dass er noch nicht zu Vielem in der Lage ist nach dieser langen Zeit.", sprach Familienvater aus und der Blick der dicklichen Frau wurde etwas sanfter. Sie grunzte etwas von "Geben sie sich keine Schuld" und begutachtete dann Lars' Verletzungen.
Lars hatte zwar ein Medikament bekommen, das verhinderte, dass eine mögliche Infektion sich in seinem Körper ausbreitete, die sein Immunsystem nicht verkraften konnte, doch trotzdem hoffte und betete er, dass sich nicht doch ein heimtückisches Virus in seinem Körper breit gemacht hatte, das sich von dem Medikament nicht beeindrucken ließ. Die Krankenschwestern machten ihm aber Mut und sagten, dass dies fast nicht möglich sei.
Am darauffolgenden Tag kam doch tatsächlich Dr. Maulbart in sein Zimmer. Lars und sein Vater hatten gerade ihre zweite Runde Uno beendet und es stand Gleichstand. "Diesmal teilst du aus.", bestimmte Lars und schob seinem Vater den Kartenstapel zu. Nebenzu schob er sich ein paar Smarties in den Mund. Lars hatte das Gefühl er müsste seinen verpassten Konsum an Süßigkeiten die letzten Wochen wieder aufholen und war froh, dass sein Körper nicht wieder alles von sich gab.
"Darf ich stören?", fragte der Oberarzt und lächelte. "Oh, wir haben sie gar nicht bemerkt.", sprach Lars' Vater ein wenig überrumpelt aus. Lars sagte nichts und war gespannt, was Dr. Maulbart ihnen zu sagen hatte. Der Mann, der ungefähr im Alter seines Vaters war, erhob seine Stimme. "Ich wollte mit euch über den weiteren Verlauf reden. Wir sind froh, dass bisher fast alles so unkompliziert und ohne größere Zwischenfälle verlaufen ist.", gab er von sich und fuhr fort. "Lars' Blutwerte sind nun schon fast im Normalbereich und machen mir einen sehr guten Eindruck. Zur Sicherheit würde ich Lars noch einige Tage hier haben wollen, damit sicher ist, dass es ihm gut geht, aber danach spricht von meiner Seite aus nichts mehr dagegen, ihn nach Hause zu schicken."
Lars' Herz machte einen Sprung und augenblicklich war er hellwach. Was hatte Dr. Maulbart gerade gesagt? Er solle nach Hause dürfen? "Das sind doch wirklich tolle Neuigkeiten, oder Lars?", wandte sich sein Vater mit strahlendem Gesicht an seinen Sohn. Lars nickte perplex und gab ein erleichtertes Lachen von sich. Konnte das wirklich wahr sein, oder war doch wieder irgendwo ein versteckter Haken, den man ihm gleich auf die Nase binden würde? Lars wartete einige Sekunden, doch nichts passierte, bis Dr. Maulbart doch noch einmal anfing zu sprechen. "Natürlich bedeutet das, dass in den nächsten Tagen nichts mehr vorfallen darf. Wenn du wieder Rückschritte machen solltest, müssen wir dich leider doch noch etwas länger behalten.", sprach er nun direkt zu Lars. "Wir doch aber alle zuversichtlich und hoffen nur das Beste, nicht?", meinte er lächelnd und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Lars nickte und grinste.
"Das muss gefeiert werden, am Besten kontaktieren wir gleich mal Mama und die anderen und überbringen ihnen die große Neuigkeit.", schlug Lars' Vater begeistert vor. Lars stimmte lachend zu und merkte, wie sich Stück für Stück der dicke Felsbrocken auf seinem Herzen löste. Die letzten Wochen war er immer größer und schwerer geworden und hatte ihn fast erdrückt. Die Tatsache, dass er wieder für eine Stunde am Tag rausgehen durfte, hatte ihm zwar wieder neuen Mut und neue Hoffnung gegeben, aber er vermisste sein Zuhause und die Leute um ihn herum, die er liebte. Zudem war immer noch nicht in Aussicht gewesen, wann er endlich wieder heimreisen durfte.
Lars' Vater hatte soeben zu Hause angerufen und gesagt, sie hätten ihnen etwas zu erzäheln und sollten doch bitte auf Skype online gehen. Obwohl Lars' Mutter gerade mitten im Kochen gewesen war, hatte sie ihnen versichert, jeden Moment auf Skype anwesend zu sein, da sie wohl schon gespürt hatte, dass etwas in der Luft lag. Wenig später, nachdem auch Lars' ausgeliehener Leptop hochgefahren war, betätigte er den Videoanruf nach Hause.
Drei Gesichter sahen ihm entgegen. Jedes davon erwartungsvoll und gespannt, was die Beiden Männer ihnen nun zu sagen hatten. Lars redete nicht lange um den langen Brei herum, sondern sprach es einfach aus. "Ich darf in ein paar Tagen nach Hause.", schrie er fast und grinste über beide Ohren. Nur Sekundenbruchteile später übertrug sich die Stimmung von seiner Glaszelle auf sein Zuhause mehrere Kilometer entfernt. Es wurde gejubelt und gelacht, ehe Lars' Mutter sich mit glasigen Augen wieder dem Bildschirm zuwandte. "Das ist großartig Lars. Großartig! Ich freu mich so, euch beide wieder zu Hause zu haben. Eigentlich dachte ich, wir würden noch eine oder mehrere Wochen zusammen verbringen Lars.", lachte sie beinahe und seufzte erleichtert und froh. Emilia und Nele grinsten ebenfalls in die Kamera. "Tja, ein wenig früher, wenn du nach Hause gekommen wärst und du hättest jetzt mit uns Pfannkuchen essen können.", ärgerte Nele sogleich wieder ihren kleinen Bruder und Lars hätte ihr am liebsten einen leichten Schubs gegeben, wie er es immer tat, wenn sie ihn nervte und reizte. Doch er musste zugegebe, dass er sich selbst auf die Sticheleien seiner großen Schwester wieder freute. "Warte nur, bis ich wieder zu Hause bin.", drohe Lars grinsend und erhob gespielt seinen Zeigefinger. Lars' Vater indessen lachte ebenfalls und versprach, dass man Lars unter keinen Umständen länger als fünf Tage behalten durfte, obwohl er natürlich keinen Einfluss darauf hatte. "Na klar.", sagte seine Mutter lächelnd. "Wie auch immer, wir essen jetzt.", verkündetete sie und Emilia quietschte erfreut auf. "Lasst es euch schmecken!", rief Lars' Vater, ehe das Videogespräch durch das typische Geräusch beendet wurde.
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The kids at station 7
KurzgeschichtenEin ganz normaler Arztterim, dachte er. Schulfrei und eine entspannte Autofahrt nach Ulm, in der er auf dem Handy seiner Mutter ein Spiel spielen durfte. Man würde nur seine Fingernägel genauer unter die Lupe nehmen, mehr nicht. Die gehasste Doppels...