Kapitel 55

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Wir hatten zwei Probleme. Erstens: Mila passte nicht mehr durch den schmalen Türramen. Ihre Flügel stießen an beiden Seiten an und schrammten über das Holz. Wir versuchten alles. Schieben, ziehen, krabbeln, seitwärts, rückwärts. Ihre Schwingen ließen sich nicht einklappen. Schließlich schlug ich mit meinem Drachenschwanz Teile des Türrahmens ab, bis sie gerade so durchpasste. Das zweite Problem ließ sich allerdings deutlich schwieriger zu lösen.
Wir hatten keine Ahnung, wo die Mienen, in denen alle Bewohner sich versteckt hielten, befanden und auch Draco ließ sich nirgends blicken.
Ich seufzte genervt und suchte mit verschränkten Armen die Umgebung ab. Mila zappelte neben mir ungeduldig herum, bis sie auf einmal sich in den Schatten einer Gasse drückte und wilde Handbewegungen machte.
"Was ist?", zischte ich ihr zu und runzelte die Stirn. Mila legte den Finger auf die Lippen und bedeutete mir herzukommen. Verwirrt stellte ich mich neben ihre wuchtigen schwarzen Federn und lugte um die Ecke. Keine drei Meter entfernt schlich eine schwarze Gestalt durch die Straßen und hielt sich meist im Hintergrund. Ein großer dunkler Umhang bedeckt das Gesicht und den Körper, sodass man nicht viel von ihr erkennen konnte. An einem silbernen Gürtel hingen zwei riesige Messer.
"Wer ist das? Meinst du wieder ein Spion oder ein Dämon? Oder Nevarian höchstpersönlich?"
Mila klang aufgeregt und ihre Schwingen wippten hin und her.
Ich kniff die Augen zusammen. "Nevarian ist es nicht. Dafür ist die Gestalt zu klein, vielleicht ein einzelner Soldat. Ein Dämon würde nicht so gebückt laufen. Sie wirkt, als hätte sie Angst."
Ich wirbelte herum. Draco stand hinter uns und hatte genau meine Gedanken ausgesprochen. Als er Mila erblickte, erstarrte er und griff langsam zu seinem Schwert. Ich stellte mich zwischen sie und hob beschwichtigend die Arme.
"Draco, das ist Mila! Das Dämonenmädchen!"

Der Junge legte den Kopf schräg, behielt seine Finger aber weiterhin am Gürtel. "Ich kann mich nicht daran erinnern, eine Harpye gesehen zu haben, Alisha. Was ist passiert?"

Ich schnitt eine Grimasse, doch die Antwort blieb mir erspart, als Mila uns auf die Gestalt draußen aufmerksam machte. "Hey", flüsterte sie aufgeregt. "Der Typ geht in das Haus, aus dem wir gerade herausgekommen sind!"

Draco schob uns beide zur Seite und blickte angespannt auf das Haus seiner Großmutter. "Ich wette, der sucht was da drin! Und wenn er wieder rauskommt, schnappen wir ihn uns!"

Wir umstellten das Haus. Draco rechts, Mila links und ich hockte mit angespannten Gliedern in meiner Drachengestalt auf dem Dach. Sobald sich etwas bewegte, krabbelte ich bis zur Dachrinne und spähte hinunter. Die Gestalt trat in derselben gebückten Haltung aus der angeschlagenen Tür und erst jetzt fiel mir auf, wie klein sie war. Fast als wäre ein Kind....
"Jetzt!"
Draco stürzte aus seinem Versteck hervor. Mila fletschte ihre Harpyenzähne. Ich sprang vom Dach auf die Person unter mir, riss sie zu Boden und brüllte in das kindliche Gesicht. Moment, ein Kind? Meine Glieder erstarrten. Da stand ich tatsächlich als riesiger albtraumhafter Drache auf einem Jungen, der nicht einmal neun Jahre sein konnte. Das musste der Schock seines Lebens sein. Die Augen des Kleinen füllten sich mit Tränen und sein Gesicht verzerrte sich zu einem entsetzten Ausdruck. Dann schrie er, als ob er sterben würde. Ich zuckte zurück, verwandelte mich keine Sekunde später und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Draco steckte sein Schwert weg, eilte herbei und drückte das Kind in seine Arme. "Schhhh. Alles gut, Jacob! Es ist alles gut. Beruhige dich!"
Das Schluchzen wurde allmählich weniger und sein Atem beruhigte dich wieder. Draco bedeutete Mila zurück zu bleiben, um den Kleinen nicht noch mehr zu erschrecken und ging dann mit ihm auf dem Arm zu mir rüber. Schuldgefühle zerrissen mein Herz, als ich Jacob so unter Schock gestellt, betrachtete. Seine Wangen waren voll von Tränen. Draco strich ihm die nassen Haare aus den Augen und setzte ihn vor meinen Füßen ab.
Ich blickte ihn an. Er schaute zu mir auf. "Wer bist du?"
Seine piepsige Stimme ließ mein Herz dahinschmelzen.
"Ich bin.."
"Zeig ihm wer du bist. Verwandele dich zurück, Alisha.",unterbrach mich  Draco und ich warf ihm einen verwunderten Blick zu.
Sobald ich meine Drachengestalt angenommen hatte, zuckte Jacob zusammen.
Draco nahm ihn an die Hand und deutete auf meinen großen Kopf. "Das ist Alisha, Jacob. Sie ist ein Drache, aber du brauchst keine Angst zu haben. Sie ist harmlos, zumindest dir gegenüber. Na los, geh hin."
Der kleine Junge näherte sich vorsichtig und streckte seine kleine Hand nach meinen Hörner aus. Ich lächelte so freundlich wie möglich, wechselte wieder in meine normale Gestalt und resignierte sein überraschtes Gesicht amüsiert.

Draco nickte mir dankbar zu und nahm anschließend die zwei Messer von Jacobs winzigem Gürtel. "Woher hast du die, Kleiner? Und was machst du überhaupt hier draußen?"

Jacob zuckte mit den Schultern. "Du bist einfach so gegangen ohne mich mitzunehmen und dann bin ich dir eben gefolgt. Das sind Samiras Schwerter. Ich habe sie mir nur ausgeborgt, für den Fall, dass wieder so ein Monster hier auftaucht!"

Ich runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. "Welches Monster?"

"Na, das mit den gelben Pupillen und der schwarzen Haut. Wo ist es denn? Ich dachte, es wäre bei euch! Ist es ausgebrochen?"
Seine Augen weiteten sich.

Ich bedeutete Mila, die immer noch hinter der Hauswand kauerte, zu uns zu kommen. Jacob staunte nicht schlecht, als das Mädchen mit den schwarzen Flügeln aus dem Schatten trat und den Schnabel zu einem freundlichen Lächeln verzerrte.

"Das war der Restant, den..."

"Das war ein Mädchen?" Jacob riss erstaunt den Mund auf und starrte Mila an. Draco schob den vorlauten Kleinen peinlich berührt hinter sich und wandte sich erneut an Mila.
"Tut mir Leid. Lass uns noch einmal von vorne anfangen. Ich bin Draco und das ist Jacob. Beachte ihn nicht weiter. Am besten du kommst mit in die Mienen. Dort ist es sicherer. Ich bin davon überzeugt, dass Samira sich liebend gerne deine Geschichte anhört."

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