Kapitel 1

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Die Wellen klatschten an den hölzernen Rumpf des dreimastigen Schiffes. Elfenbeinfarbene Segel plusterten sich im stetigen Wind der karibischen See auf und erhöhten die Fahrgeschwindigkeit. Eine einzelne Möwe segelte am wolkenlosen Himmel. Ich starrte ihr sehnsüchtig nach. Beobachtete, wie sie ihre Kreise zog, die Flügel ausbreitete und sich von den Seewinden treiben ließ. Das bedeutete frei zu sein. So würde es sich anfühlen, wenn man ohne Sorgen durch die Lüfte glitt. Ein schönes Gefühl.

Ich schüttelte den Kopf. Frei sein? Nicht in diesem Leben.
Mit grimmiger Miene rutschte ich vom Ausguck hinunter, lehnte mich an das hölzerne Gelände des Schiffes und sah gedankenverloren auf die tosenden Wellen herab. Sie erinnerten mich an mein Leben, das ich geführt hatte, bevor ich abgehauen war. Ein Leben voller Wut, Ungewissheit, Angst und.....Magie.
Ich besaß außergewöhnliche Kräfte. Eine Gabe, die es nicht mehr hätte geben dürfen. Verkörpert von einer Spezies, die schon längst ausgestorben und vergessen war.
Dennoch gab es mich. Eine Runi. Ein Mensch, durch dessen Adern kein Blut, sondern flüssige Magie floss. Ein Mädchen, das allein durch ein Fingerschnippen Waldbrände verursachen konnte.
Eine Sechzehnjährige, die gefährlicher werden konnte, als eine Militärseinheit es jemals sein würde.

Das Schiff wurde von einer großen Welle erfasst und ruckelte hin und her. Das Holz knirschte leise, als das Wasser auf die Planken traf.

"Alisha!"
Eine raue Männerstimme trommelte mich aus meinen Gedanken. Blinzelnd drehte ich mich um und suchte denjenigen, der mich gerufen hatte. Ein alter Mann mit einem langen Bart und einem immerzu schlecht gelaunt dreinblickenden Gesicht torkelte auf mich zu. Seine eine Hand hielt sich krampfhaft an der Reling fest, in der anderen trug er eine sandige Flasche voll Rum.
"Alisha!", rief er erneut und sein alkoholisierter Atem schlug mir und Gesicht. "Da bist du ja! Kannst du heute für mich Wache halten? Ich glaub, ich fühl mich nicht so..."
Dann übergab er sich ins Meer und ich übernahm eilig seine Schicht, bevor er mir noch vor die Schuhe reiherte.
Flink kletterte ich über die Strickleiter auf den Ausguck, stellte Öllampe und Fernglas auf den Boden und betrachtete die untergehende Sonne. Wie ein roter Feuerball tauchte sie im dunkelblauen Meer unter und überließ dem runden Mond das Feld.
In der Nacht war es angenehm kühl und still. Die Sterne funkelten wie hunderte kleine Diamanten am fast schwarzen Himmel und warfen ein wunderschönes Spiegelbild auf das karibische Meer.

In solchen Nächten dachte ich oft an meine Familie. Meine ungewöhnliche Abstammung hatte sie vollends zerstört.
Zuhause hatte ich einen Bruder gehabt, eine Mutter und einen Vater.
Doch wir hatten nie ein friedliches Beisammensein gehabt. Meine Mutter war die ganze Zeit traurig gewesen, mein Bruder sperrte sich Tag und Nacht in seine Hütte ein und mein Vater ging von Morgens bis Abends zur Arbeit. Wenn er dann einmal nach Hause kam, stritt er nur die ganze Zeit mit meiner Mutter, was ich für ein Kind sei und was sie mit mir anfangen sollten.
Und ich saß meistens ganz allein in meinem Zimmer, und versuchte die Magie in mir zu verdrängen. Zu vergessen. Einfach abzutöten, damit wir wieder in Frieden leben konnten.
Doch das war damals unmöglich und würde auch immer eine unmögliche Tat bleiben.
Die Situation zwischen meiner Familie und mir hatte sich immer weiter zugespitzt. Irgendwann kam der Punkt, an dem ich keine Lust mehr hatte, wie ein gefährliches Tier behandelt zu werden. Und dann packte ich meine Sachen und haute ab. Floh aus diesem verdammten Alltag. Aus diesen Vorwürfen und mitleidigen Blicken. Aus diesem Versuchen mich untersuchen zu lassen. So entschied ich mich fort zu gehen und ein neues Leben anzufangen. Ich fuhr oft als blinder Passagier in verschiedenen Zügen oder Traktoren mit.
Ich schloss mich einer kleinen Gruppe von Abenteurer an, die für viele Jahre ein Leben auf dem Meer verbringen wollte.

Mir war es egal, ob ich nun eine Runi war oder nicht. Entscheidend war, dass dieser Teil von mir alles zerstört hatte.

Ich lehnte mich über die Reling des Handelsschiff und starrte gedankenverloren in die ruhigen Wellen. Der Wind hatte aufgehört zu wehen und das Schiff tuckerte nur noch schleppend auf der karibischen See.

Trotz dem Hass den ich gegen meine Kräfte hegte, übte ich mich regelmäßig in Elementen und Magie. Ging manchmal bis an meine Grenzen nur um dann feststellen zu dürfen, dass ich anders war.

Ob meine Eltern wohl glücklich waren, jetzt da ich das Land verlassen hatte? Wie kam mein älterer Bruder damit zurecht? War er genauso erleichtert? Oder trauerte er doch?

Mühsam scheuchte ich die Fragen aus meinem Kopf. Warum beschäftigte ich mich damit überhaupt noch? Jedesmal, wenn ich darüber nachdachte, bekam ich schlechte Laune und der Tag war fürs Erste gelaufen.

Ich seufzte genervt, setzte mich auf den hölzernen Boden der runden Kuppel und lehnte mich an den Mast. Dann blies ich die Kerze aus, zog die Kapuze tief ins Gesicht, schlief unter den rauschenden Gesang der See ein.

Und dann träumte ich.......

Drachenseele - Hoffnungstod Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt