Stimmen aus der Vergangenheit

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Die Wellen rauschten an den Strand und das Geräusch der Brandung vermischte sich mit meinen eigenen Atemzügen. Einatmen, ausatmen. Kontrolle, absolute Selbstbeherrschung. Das war genau das, was ich mir in den letzten Jahren antrainiert und perfektioniert hatte. Das Laufen half mir dabei. Ich liebte es immer noch genauso wie früher, als ich süße sechzehn Jahre alt gewesen war. Man konnte dabei einfach so super abschalten und genau aus diesem Grund tat ich es immer noch. Jeden Morgen und jeden Abend lief ich durch den Sand der wunderschönen Cote d'Azur, auch wenn es nicht so einfach war wie auf Asphalt. Doch ich liebte einfach die Herausforderung und meinen Muskeln tat das ganze auch gut. Nicht umsonst hatte ich Beine wie ein junges Reh und immer noch einen Knackarsch. Und das trotz meines Alters von 34 Jahren. 
Ich kam an der Stelle an, wo ich die Asche meiner Eltern verstreut und meinen Abschiedsbrief dem Meer übergeben hatte. Mein wunderbares Meer. Ich liebte es immer noch genau so sehr wie früher. Ich genoss das Geräusch der Wellen – meines Wiegenlieds – und das Gefühl des Wassers, wie es meine nackten Füße umspülte. Und dieser Geruch... Nach Sand und Sonne... Das war einfach herrlich. 
Ich hielt kurz inne und machte ein paar Dehnungs- und Lockerungsübungen. Siebzehneinhalb Jahre war ich mittlerweile wieder hier an diesem Ort, den ich so sehr liebte und ich hatte niemals meine Entscheidung bereut, die ich damals im Krankenflügel dieses schrecklichen Ortes namens H... (BAH!) getroffen hatte. Ich glaube, ich hätte keine bessere Wahl treffen können, als wieder nach Frankreich zurück zu kehren. Sicherlich war es nicht einfach für mich gewesen, denn auch hier in Frankreich hatten unzählige Erinnerungen auf mich gewartet, aber trotzdem hatte ich mein Leben einigermaßen weiter leben können. Und das ganze ohne großartigen Kummer und Schmerz. 
Tja, mein Leben, das war so eine Sache. Ihr fragt euch jetzt sicher, ob ich glücklich verheiratet war, Kinder bekommen oder zumindest die Liebe meine Lebens gefunden hatte. Da muss ich euch aber leider enttäuschen. Nichts dergleichen war passiert, aber wenigstens hatte ich mir einen Traum erfüllt. Aber ich glaube, es ist besser, es von Anfang an zu erzählen, während ich meinen Muskeln eine kleine Entspannung gönne: 
Nachdem ich aus England zurück gekehrt war und alle meine Angelegenheiten geregelt hatte, war ich zurück in die Beauxbatons-Akademie gegangen und hatte mich wie verrückt aufs Lernen gestürzt. Und so war es auch kein allzu großes Wunder, dass ich meine ZAGs ganz hervorragend schaffte. Ich hatte überall ein Ohnegleichen bekommen, außer in Kräuterkunde und Zaubertränke, aber selbst da hatte ich ein Erwartungen übertroffen geschafft. Mein Lehrer, Monsieur Decap, war wirklich sehr überrascht gewesen und hätte mich mit Freuden in seinem UTZ-Kurs aufgenommen, aber ich lehnte dankend ab. Auf Zaubertränke konnte ich gut und gerne verzichten und das nicht nur, weil es mein absolutes Hassfach war, sondern auch, weil es mich an eine Zeit erinnerte, an die ich mir zu denken verboten hatte. Halt, Mimi, denk gar nicht erst daran. Böses Thema, das weißt Du doch. 
Da musste ich meiner inneren Stimme voll und ganz recht geben, denn ich hatte mir selbst geschworen, dieses Thema zu meiden. 
Also, wo war ich? Ah ja, UTZ-Kurse. Ich hatte Verteidigung gegen die Dunklen Künste, Verwandlung, Alte Runen, Zauberkunst, Astronomie und Pflege magischer Geschöpfe belegt und meine letzten beiden Schuljahre, stur aufs Lernen fokussiert, durchgezogen. Meine Freundin Fabienne, die mir ja immer die liebste gewesen war, hatte die Welt nicht mehr verstanden, doch es war mir egal gewesen. Während sie also weiterhin einen auf Party machte, hatte ich mich auf meine Bücher konzentriert und meine Prüfungen mit Auszeichnung bestanden. Wenn ich es mir heute so überlegte, dann hatte ich wirklich ziemlich zurück gezogen gelebt – tat das auch immer noch – aber wenigstens hatte ich so mein Ziel erreicht, denn nach der Schulzeit hatte ich meine zweijährige Ausbildung zur Lehrerin angetreten. 
Und genau das war ich jetzt. Professorin für Alte Runen und Verwandlung an der Beauxbatons-Akademie. Und nicht nur das: ich war sogar noch zur Vertrauenslehrerin ernannt worden und vor drei Wochen hatte ich von der Schulleiterin, Madame Maxime, die Nachricht erhalten, dass ihr Stellvertreter, Monsieur Giroud, in Rente ging. Also hatte sie mir den Posten angeboten, den ich natürlich ohne zu zögern annahm. 
Es war eine Herausforderung, die ich nur zu gerne antrat, denn ich brauchte so etwas einfach. So war ich schon immer gewesen. Knallhart und tough und wenn es darum ging, die Arschbacken zusammen zu kneifen, dann war ich darin die Weltmeisterin. Ich hatte einfach ein dickes Fell und das brauchte man in meinem Beruf auch. Als Professorin hatte man es nicht immer leicht. Die Schüler versuchten einem auf der Nase herum zu tanzen, aber das ließ ich natürlich nicht mit mir machen. Ich war nicht sonderlich streng oder so und drückte auch mal ein Auge zu, aber verarschen lassen musste ich mich ja auch nicht. Wenn ich es mir recht überlege, dann war mein Unterrichtsstil so ähnlich wie der von Professor McGonagall an diesem grauenhaften Ort, nur dass ich auch ziemlich witzig sein konnte, das lockert einfach die Stimmung und deshalb war ich bei den Schülern auch sehr beliebt. Mehr als einmal hatte ich gehört „Mademoiselle Duchesse ist einfach nur cool“ und das war mir dann immer runter gegangen wie Öl. Es tat einfach gut, zu hören, dass man geschätzt wurde. 
Oh, aber apropos Schule und so: ich sollte dringend schauen, dass ich nach Hause kam, denn ich musste noch meinen Koffer packen. Morgen ging es zurück nach Beauxbatons und ich wollte sicher gehen, dass ich auch wirklich alles hatte. Meine ganzen Bücher und Unterrichtsmaterialien hatte ich zwar in meinem Büro im Schloss gelassen, aber trotzdem hatte ich noch allerhand zu packen. Da waren die ganzen Sachen, die für eine Frau überlebensnotwendig waren: Klamotten, Schminke und Beautyzeug. Und Schuhe, vor allem SCHUHE! Ich war einfach süchtig danach, obwohl viele darüber den Kopf schüttelten. Mimi und hohe Schuhe? Ging normalerweise gar nicht, aber in den letzten Jahren hatte ich es geschafft, meine Tollpatschigkeit ein klein wenig herunter zu schrauben. Mir begegnete zwar noch immer das eine oder andere Fettnäpfchen, aber was soll's. Das gehört zum Leben nun einmal dazu. 
Ich streckte mich noch ein letztes Mal, beugte mich einmal nach links und einmal nach rechts um meine seitlichen Rückenmuskeln zu dehnen und lief dann zurück in Richtung zuhause. Ich wohnte jetzt wieder in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, denn bei meiner Tante war ich ausgezogen, kaum dass ich die Schule beendet hatte. Ich brauchte einfach keinen Babysitter und kam sehr gut alleine klar. Ich hatte mittlerweile sogar richtig kochen gelernt und man konnte es sogar essen. Ich war zwar noch nicht so gut darin, wie meine Mum es gewesen war, aber das lag sicher an der mütterlichen Liebe. Mütter waren einfach die besten Köche und da ich ja noch keine Mutter war... 
Während ich die letzten zweihundert Meter lief, schlich sich ein trauriger Gedanke in meinen Kopf: Wie gerne würde ich jetzt mit Filou hier laufen, würde mit ihm toben, spielen und lachen, aber das ging ja nicht mehr, denn Filou war letztes Jahr verstorben. Er war zwanzig Jahre alt geworden, was für einen Hund ein extrem hohes Alter war. Er war mir in all den Jahren treu zur Seite gestanden, war mein bester Freund gewesen, doch irgendwann hatte ich ihn gehen lassen müssen. Er war Tage lang schon ziemlich schwach gewesen und irgendwann konnte er nicht mehr. 
Es war in der Nacht gewesen. Filou hatte wie immer an meiner linken Seite geschlafen und ich hatte mich fest an ihn gekuschelt. Das war die einzige Nähe, die ich ertrug. 
„Mimi“, hatte er leise geflüstert und all meine Sinne waren sofort geschärft gewesen. 
Ich hatte einfach gespürt, wie schwach er doch war und hatte unwillkürlich gewusst, dass es jetzt Zeit für ihn war zu gehen. 
„Was ist los, mein Schatz“, hatte ich ihn gefragt. 
„Ich bin so müde, Mimi.“
„Ich weiß, Filou.“
Ich hatte mich noch enger an ihn gekuschelt und ihn fest in die Arme genommen. Ich wollte ihm so viel Kraft geben, wie ich abgeben konnte, doch trotzdem schaffte ich es nicht ganz. 
„Ich habe Angst“, hatte er gesagt und dabei mehr als nur schwach geklungen. „Aber nicht davor zu sterben, sondern Dich hier ganz alleine zurück zu lassen. Wie sollst Du denn ohne mich klar kommen?“
„Ich schaffe das, Filou“, hatte ich zurück gegeben und sein weißes Fell geküsst. „Ich weiß doch, dass, egal wo Du hingehst, Du immer bei mir sein und mir die Stärke geben wirst, die ich brauche.“
„Versprich mir nur eines, Mimi.“
„Alles, mein Großer.“
„Versprich mir, dass Du noch einmal die Liebe suchen und finden wirst. Ich möchte, dass Du wieder so glücklich wirst, wie vor sechzehn Jahren. So glücklich, wie ich es mit Bella gewesen bin.“
Ich wusste nicht, was ich daraufhin sagen sollte, denn eigentlich hatte ich mir selbst geschworen, nie wieder einem Mann mein Herz zu schenken, da ich ja auch gar keines hatte, das ich hergeben konnte. Mein Herz war unwiederbringlich zerstört worden, von jemandem, an den ich nicht mehr einen Gedanken verschwenden wollte. Außerdem, was war die Liebe denn schon? Sie tat einem ohnehin nur weh. Ich wollte nie wieder so verletzt werden, wie es einst geschehen war. Nie wieder würde ich zulassen, dass man mir so sehr weh tat. Einmal im Leben diesen Schmerz, den ich durchgemacht hatte, aushalten, war wahrlich genug. Nein, vielen Dank, ich hatte genug von den Männern da draußen. Alles Vollblutarschlöcher was das Thema Liebe angeht. Ich verzichte freiwillig!
Doch ein Röcheln von meiner linken Seite hatte mich ins Hier und Jetzt zurück gerissen. 
„Versprich es mir, Mimi“, hatte Filou gemeint. „Du musst wieder glücklich werden.“
„Ich werde es versuchen, Filou“, hatte ich ihm geantwortet. 
„Nicht nur versuchen, Mimi. Du musst es tun. Bitte, für mich!“
„Okay.“
Dann hatte ich ihn noch fester an mich gedrückt. 
„Danke, Mimi. Aber bevor ich gehe, möchte ich Dir noch eines sagen. Du warst die beste Hundemami, die man sich nur wünschen kann.“
„Danke, mein Schatz. Und Du warst der beste Hund.“
„Ich hab Dich lieb, Mimi! Für immer und ewig.“
„Und ich hab Dich lieb, Filou. Du wirst für immer in meinem Herzen sein.“
Danach hatte mein lieber, weißer Schäferhund nicht mehr weiter sprechen können, weil er einfach zu schwach gewesen war. Ich hatte ihn in meinen Armen gehalten, bis er nach über einer Stunde schließlich seinen letzten Atemzug getan hatte. Ich war sehr traurig gewesen und hatte gehofft, dass er nicht zu sehr hatte leiden müssen. 
Am nächsten Tag hatte ich mich mit einer ungewöhnlichen Bitte an ein magisches Bestattungsinstitut gewendet. Ich wollte Filou verbrennen lassen und aus seiner Asche einen kleinen Diamanten gepresst haben, wenn das denn möglich war. Und es hatte auch funktioniert. Mit diesem Stein war ich zu einem Juwelier gegangen und hatte mir daraus einen wunderschönen Anhänger für eine Kette fertigen lassen. Es hatte mich eine ganze Stange Geld gekostet, aber das war mir egal gewesen. Ich wollte einfach ein Erinnerungsstück an meinen besten Freund haben. 
Den Anhänger trug ich an einer Kette um den Hals und ich würde sie nie wieder ablegen. Auch das hatte ich mir selbst geschworen. Filou würde für immer bei mir bleiben, so wahr ich Marie Lucie Duchesse hieß. 

Bat in my heartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt