In Alliera gaben sie Krankheiten Namen, damit sie fassbarer wirkten. Es waren immer Mädchennamen. Als ich elf war, hatte ich zum ersten Mal von ihr gehört. Eine seltene Krankheit mit unauffälligen Symptomen, die erst dann erkannt wurden, wenn es bereits zu spät war. Heute wusste ich, dass sie aus dem Süden über die lange Seestraße kam. Dann hatte sie sich immer weiter ausgebreitet. Anfangs starben nur vereinzelt Menschen. Doch das war nichts Besonderes. Menschen starben nun einmal. Tag für Tag. Die Krankheit erreichte irgendwann auch die Tore von Fiadah, einer großen Stadt westlich von Bachten und nördlich von Feuerstein, meiner Heimatstadt. Das war vor eineinhalb Jahren. Menschen fingen an Atemprobleme zu bekommen, litten unter Husten und wenn es schlimmer wurde bekamen sie bleiche, leichenartige Gesichter, die den Tod so deutlich zeigten wie nichts anderes, was ich jemals gesehen habe.
Der Tod holte sie alle. Frauen und Kinder, erwachsene Männer, Alte und Kranke, Gesunde, Hübsche, Hässliche, Fröhliche, Traurige.
Die Stadtwachen riefen immer wieder zu erhöhter Vorsicht auf, offener Körperkontakt wurde nahezu verboten, öffentliche Veranstaltungen abgesagt. Doch trotz allem verbreitete sich die Krankheit und das belebte Fiadah wurde immer mehr zu einer Totenstadt. Freier Handlungsverkehr wurde abgebrochen zu dem Zeitpunkt als über zwanzig Prozent der Bewohner als erkrankt und über fünfundvierzig aller Menschen als infiziert gemeldet wurden. Von da an ging das Leben der normal verdienenden merklich bergab. Die Versorgung war fast ausschließlich nur noch über den Schwarzmarkt möglich und die Preise stiegen. Wir konnten uns kaum noch unser tägliches Brot leisten.
Ende letzten Sommers begann meine Mutter zu sparen, nur kleine Mengen, immer so viel, dass wir trotzdem um die Runden kamen. Sie plante eine Flucht in eine entfernte Stadt, vielleicht sogar ein entferntes Land. Sie hatte mir nie genau ihre Vorhaben mitgeteilt, nie im Detail. Darüber sprach sie nur mit meiner jüngeren Schwester Isabella. Sie war hübscher als ich und intelligenter, weshalb meine Mutter ihr jedes Jahr die Schulausbildung bezahlte. Ich habe nie etwas dazu gesagt, weil ich ihre Entscheidungen niemals in Frage gestellt hätte. Sie hatte uns in jedem Moment das bestmögliche gegeben ohne an sich zu denken.
Ich arbeitete als Mädchen für alles im Gasthaus Trink & Zahle. Früher habe ich mich vor allem um die Zimmer für Weitangereiste gekümmert. Betten gemacht, Staub gewischt, Spiegel poliert. Doch diese Zeit ist vergangen. Es kamen keine Reisenden mehr nach Fiadah. Das die Stadt so von der Außenwelt abgekapselt wurde, war fast noch schlimmer als die Krankheit selbst. Wir hatten keine Gegenmittel. Die Regierung tat nichts.
Meine Mutter war früher einmal mit Jane befreundet, bevor sie eine Ausbildung zur Heilkundigen gemacht hatte. Jane war die stellvertretende Leiterin des T & Z. Allein ihr verdankte ich meinen Job. Früher habe ich auf den Fluren manchmal ein anderes Mädchen gesehen. Wir haben uns still beobachtet. Es wurde nicht gern gesehen, wenn Bedienstete sich untereinander unterhielten und es waren harte Zeiten für Leute wie uns. Wir brauchten das Geld. Doch in den letzten Wochen war sie nicht mehr da. Genauso wenig wie der Junge aus der Küche, der mich immer so schief angelächelt hatte. Einmal habe ich überlegt, Jane zu fragen, ob sie krank waren, doch wahrscheinlich kannte ich die Antwort bereits. Dem T & Z ging das Geld aus. So wie allen. Immer weniger Leute kamen und die Einnahmen sanken. Ich fragte mich, ob ich besser war als die zwei und deshalb noch da war, doch ich tippte darauf, dass ich einen Bekanntschaftsbonus hatte. Jane wusste wie sehr wir die Einnahmen meines Jobs brauchten. Sonst konnte Bella, meine Schwester, ihre Ausbildung nicht fortsetzen, dabei war es das, was meine Mutter im Anblick der Zukunft noch am Leben hielt. Sie klammerte sich an diesen Plan. Wenn wir lange genug durchkamen, bis sie fertig war, fände sie sicherlich in jeder Stadt schnell eine gutbezahlte Stelle.
Ich wurde kürzlich in die untere Etage zum Kellnern eingeteilt und von Tag zu Tag wurde mir klarer, wie ernst es wirklich war. Kaum Menschen waren noch da. Dafür unterhielt ich mich manchmal mit einem alten Mann namens Jordan, der jeden Abend zwischen sieben und acht kam und eine Kartoffelsuppe bestellte. Er arbeitete als Schuster, wurde jedoch von seinem Sohn unterstützt, der den Großteil des Geschäfts bereits selbstständig schmiss. Jordan schaute nur ab und zu über seine Schulter und meckerte, dass er die nötige Leidenschaft am Handwerk nicht aufbrachte. Ich verstand seinen Sohn schon. Woher sollte er diese Energie nehmen, wenn ihn das Handwerk nicht erfüllte? Doch davon sagte ich Jordan nichts. Er war ein alter Mann und sollte seine Tage so verbringen wie er es für richtig hielt und vielleicht war es auch mehr ein Spaß zwischen Vater und Sohn. Ich war hier nur die Angestellte.
An einem kalten Abend ging ich durch die dunkeln, verlassenen Straßen Fiadahs und dachte darüber nach ob das Mädchen aus dem T & Z es wohl trotzdem schaffte. Ob sie Geld verdiente oder sich nötiges Essen stehlen würde. Ob sie ein warmes Zuhause hatte und eine Familie, die für sie aufkam, jetzt, da sie es nicht mehr selbst konnte.
Ich hatte Glück, noch Arbeit zu haben. Doch das konnte sich jederzeit ändern. Ich sah Janes besorgtes Gesicht tagtäglich. Es war nur eine Frage der Zeit bis ich entlassen wurde. Genauso wie es eine Frage der Zeit war, bis Menschen, die mir nahe standen die Krankheit bekämen. Isabella brauchte noch fünfzehn Monate. Dann könnten wir fliehen. Aber fliehen war illegal. Keiner durfte die Stadt verlassen. Wir waren eingeschlossen mit der Krankheit. Mira stand an unserer Türschwelle. Ich hasste diesen Namen so sehr, weil er alles war was mich ausmachte. Warum musste ausgerechnet ich den Namen dieser Krankheit tragen, der uns allen den Tod so nahe brachte, dass wir sein Atem am Hals spürten?
Später fragte ich mich immer wieder, warum ich die Krankheit nie bekam. Warum nicht ich? Ich hasste Mira so sehr. Weil sie alles war was war und alles was blieb.
Es war alles eine Frage der Zeit.
Wenn ich nur gewusst hätte, wie wenig Zeit mir tatsächlich blieb...
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MIRA
FantasyEine Krankheit breitet sich in Alliera aus und bringt Mira dazu aus ihrer Heimatstadt Fiadah zu fliehen und sich auf den Weg in die Hauptstadt zu machen. Als sie endlich wieder Arbeit findet, führen viele seltsame Umstände zu einer Bekanntschaft, mi...