Ich wagte es nicht zu atmen. Wir sahen einander stumm an. Dann war er blitzschnell bei mir, ich war aufgestanden und spürte seine warmen Arme um mich. Warme, schnelle und fürchterlich schöne Gefühle überfluteten mich, Gefühle, die stark waren, das es mir beinahe Angst machte, Gefühle von deren Existenz ich nichts erahnt hatte, und mir fehlten die Worte. Wie? Wann? Jeremy löste sich von mir und sah mir in die Augen. „Du glaubst gar nicht wie froh ich bin, dass du hier bist." Seine Worte klangen so absurd, dass ich lachen musste. „Das sagst du? Ich habe auf dich gewartet, ich hab mir Sorgen gemacht!" Bevor ich protestieren konnte lagen seine Lippen auf meinen, sanft küsste er mich und plötzlich waren alle Bedenken und Fluchtpläne dahin. Es spielte keine Rolle mehr. Jeremy war zurück, er war wirklich zurückgekommen. Ich erwiderte seinen Kuss und das Leuchten in seinen Augen als wir uns wieder ansahen ließ mein Herz in meiner Brust springen. Er umfasste mein Gesicht und murmelte noch einmal: „Ich bin so glücklich, dass du hier bist." Dann gab er mir einen kurzen Kuss auf die Stirn. Ich schlang die Arme um seinen Hals, doch als ich eine schmerzliche Regung in seinem Gesicht vernahm, ließ ich sie wieder sinken. „Was ist?", fragte ich verunsichert. Hatte ich irgendetwas falsch gemacht, war es ihm zu viel gewesen? Er schüttelte den Kopf und setze ein süßes Lächeln auf, doch ich sah, dass etwas nicht stimmte und rückte von ihm ab. Er versuchte mich von irgendetwas abzulenken und nahm meine Hände in seine. „Es ist alles gut." Worte, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. „Jeremy..." Er zog mich zu sich und wiederholte in gekonnt nebensächlichem Plauderton: „Es ist nichts." Doch es war bereits zu spät. In mir war Misstrauen erwacht. Und Sorge. Ich sah ihm in die Augen, in seine blauen Augen, die im schwachen Licht grünlich schimmerten. Jeremy seufzte und schloss kurz die Augen als müsste er sich stark zusammenreißen. Dann hob er sein Shirt an. Darunter kamen kleine Blutergüsse zum Vorschein, überall. Ich verstummte, die Augen geweitet. Vorsichtig bewegte ich meine Finger über seine Haut ohne sie dabei zu berühren. Meine Augen brannten. Was hatten sie mit ihm gemacht? Was war nur passiert? Ich sah ihn an. Sein Gesicht war ein verzog sich vor Schmerz als er sich bewegte. Und da fiel mir auf, dass er nur eines seiner beiden Beine belastete. Ich kniete mich auf den Boden vor ihm und hob unsagbar vorsichtig sein rechtes Hosenbein an. Die Angst vor dem, was ich gleich sehen würde lies meine Hände zittern. Gequält verzog Jeremy sein Gesicht, diesmal nicht vor Schmerzen, als er mir versicherte, alles sei nur halb so schlimm. Ich starrte auf sein Bein. Sein Bein, das seltsam verrenkt aussah, ein Knochen stand unnatürlich hervor und rote Flecken zeichneten sich auf seiner Haut ab, getrocknetes Blut klebte daran. Oh Jeremy.
Als wir aus dem Zelt traten, waren da bereits William, ein paar andere der Rebellen, deren Namen ich nicht kannte sowie einige Frauen, die schnell auf uns zukamen, ganz darauf bedacht, Jeremy von mir weg, woandershin zu transportieren. Ich bemerkte, dass William mich ansah, aber ignorierte es. Ich redete mir ein ihn gar nicht zu sehen. Er existierte nicht.
Die Frauen brachten Jeremy in eines der Zelte in unmittelbarer Nähe zum Haus. Dort legten sie ihn auf ein Bett mit weißen Laken. Mir war nicht klar, was sie hier taten bis sie ihm aus seiner Kleidung halfen und begannen ihn zu waschen. Es fühlte sich befremdlich an ihnen dabei zuzusehen, ich blieb stocksteif am Eingang stehen und rührte mich nicht. Sie holten Verbände und Öle zur Wundreinigung. Seine rote, geschundene Haut kam überall zum Vorschein und ich bemerkte ein unkontrolliertes Zittern in meiner Hand, während ich den Blick nicht von ihm abwenden konnte. Ich konnte nicht. All das Blut, blaue und violette Schwellungen, rote Flecken, die sich quer über sein Bein und seinen ganzen Körper zogen. Ich musste nicht wissen, wie es aussah, wenn Menschen gefoltert wurden um es zu verstehen.
Unter den Frauen war auch ein jüngeres Mädchen, die zu mir kam. "Du solltest gehen." Ich brauchte zwei Atemzüge um sie zu verstehen und vier weitere um meine Sprache wiederzufinden. "Okay." Meine Stimme nicht mehr als ein raues Flüstern. Jeremy lag nun bewegungslos da als wäre er eingeschlafen. Minuten waren vergangen, vielleicht eine halbe Stunde? Ich hatte mein Zeitgefühl verloren, existierte nur ohne Regungen, wie ihn Trance und sah ihn an. Wahrscheinlich hatte er das Bewusstsein verloren. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und ich war unschlüssig, was ich tun sollte. Ich trat an das Bett und die Frauen, die immer noch Kräuter zerstießen oder mit frischen, feuchten Wickeln seine Wunden kühlten, wichen zurück. Auf seiner Stirn glänzten jetzt feine Schweißperlen und er wirkte kraftlos. Ich fragte mich wie er überhaupt noch hatte stehen können, während wir in unserem Zelt gewesen waren. Da erinnerte ich mich an die Stimmen, die ich gehört hatte bevor er gekommen war, Stimmen, die ihn davon hatten abhalten wollen. Wo ist sie? Ich muss sie sehen. Mein Herz zog sich immer noch seltsam zusammen, wenn ich an seine Worte zurückdachte. Lautlos und sanft strich ich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, berührte sanft seine Schulter. "Ich bin draußen", hauchte ich dann und wünschte mir er hörte es.
Stille umhüllte mich. Ich hatte in den vergangenen Wochen einige Lieblingsplätze in der Nähe des Rebellenlagers gefunden. Einer davon war hinter dem Übungsplatz, an dem ich mit Will trainiert hatte. Ich wollte nicht mehr die Lichtung auf dem Hügel aufsuchen, sie erinnerte mich zu sehr an das Gefühl von der Hauptstadt angezogen zu werden, es kam mir beinahe wie Heimweh vor. Aber ich würde nicht fliehen, nicht fortgehen. Das war vorbei. Jeremy war zurückgekehrt, er war wirklich hier. Jetzt würde alles wieder besser werden. Trotzdem bekam ich kaum Luft unten, in der Nähe der anderen. Ich hatte keine Arbeit, während die anderen Frauen sich nützlich machten und die Männer die Kämpfe und Angriffe vorbereiteten saß ich herum, nun wo mich niemand mehr trainierte.
Die Stille an diesem Ort beruhige mich auch auf eine bestimmte Weise, anders als die leise Zusammenarbeit im Krankenzelt unten im Lager. Er wird ein paar Stunden schlafen, hatte mir das junge Mädchen gesagt. Die Eiseskälte des Tages schnitt sich in meine Haut und mein Atem ließ kleine weiße Nebelwolken entstehen. "Ich dachte, du würdest bei ihm sein." Ich drehte mich nicht zu ihm um. "Er schläft." "Trotzdem..." "Was geht es dich an?", fuhr ich ihn an. Will setzte sich neben mich. Ich verkrampfte und hielt die Luft an, während ich meine Fingernägel in meine Handinnenfläche bohrte. "Ich passe auf, dass du nichts Dummes anstellst", erklärte er. Er spielte wieder. Ich schnaubte. Ich sah ihn nicht, er war gar nicht da, nur ein Flüstern des Windes, er existierte nicht. Ich würde nicht mit ihm reden müssen.
Doch sein Blick bohrte sich förmlich in mein Fleisch bis ich es irgendwann nicht mehr aushielt und aufsprang. "Ich will allein sein", murmelte ich halb zu ihm, halb zu mir selbst und entfernte mich von William, bevor er mich hatte festhalten können. Sobald ich aus seiner Reichweite verschwunden war, begann ich zu laufen. Ich wusste nicht, was mich dazu trieb, doch ich lief immer schneller. Plötzlich fühlte ich mich wie auf einer Jagd, denn ich wusste, dass Will mir folgte, auch wenn ich noch nicht entschieden hatte, ob ich Jäger oder Gejagte war.
Ich übte mich darin mich so lautlos wie möglich über den kalten Waldboden zu bewegen, sprang über klirrende Äste und lauschte danach. Leichtfüßig, geschwind, unsichtbar.
Langsamer ging ich nun durch den Wald, hing mehr meinen Gefühlen als meinen Gedanken nach und zog die kalte Luft in vollen Zügen ein. Ich hielt erst wieder inne als der Wald vor mir sich auflöste und ich am Rande einer Klippe zu stehen kam. Über Meter fiel der Fels fast senkrecht ab. Von dieser Position aus konnte ich die Bäume unten überblicken, dichte, dunkelgrüne Nadeldächer, die halb im Nebel der dunstigen Wolken verschwanden. Wie gebannt von der Natur sah ich in das Tal hinab und wand erst dann den Blick ab als ich bereits Schritte hinter mir hörte, die sich ihren Weg durch den Wald bahnten.
Will wirkte genauso überrascht wie ich, dass wir uns so schnell wiedergefunden hatten. Anscheinend hatte er nicht wirklich mit mir gerechnet. Insgeheim lobte ich mich für diesen kleinen Sieg, doch mir war gar nicht mehr nach Sticheleien und Schuldzuweisungen zu Mute als er unvermittelt hervorbrachte: "Ist es nicht wunderschön hier?" Sofort wand ich mich wieder dem Tal zu. Wie die Bäume und Falten der Hügel und Berge Linien formten, die so perfekt zusammen zu passen schienen - es war wirklich wunderschön. "Ich bin mit Fine noch nie hier gewesen, mit noch niemandem", gestand er und ich merkte sofort, was es ihm bedeutete, wie kostbar dieser Moment war, indem er so offen und hoffnungsvoll schien, indem er mich nicht verspottete oder kleinmachte. Es wirkte beinahe so als schätzte er meine Anwesenheit. Meine ruhige Aura, meine tiefen Atemzüge, meine lautlosen Schritte.
Und dann geschah es plötzlich. Das erste mal seit Ewigkeiten. Es war wie ein Wunder. Tränen glitzerten in meinen Augen als winzig kleine Schnee- und Eiskristalle vom Himmel fielen, wie kleine Wolkenkissen, die die Erde mit ihrer Gnade zudecken wollten. Es schneite.
Still sahen wir dabei zu wie die Bäume von Unschuld bedeckt wurden.
"Ich denke, ich weiß, was wir aus dir machen", sagte Will dann. "Du bist keine Kämpferin, Mira, du bist ein Schatten."
Ich verstand nicht was er sagte, aber es klang als passte es zu mir. Ein Schatten, lautlos, aber gefährlich, sichtbar, aber unsterblich, vorhersehbar, aber unbesiegbar, seelenlos, dunkel und grausam. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach dem eisigen Tod aus und eine winzige Flocke landete auf meinem Finger. Mein ganzes Haar war bereits voll von ihnen, doch auf meiner Fingerkuppe taute die Schneeflocke langsam und auch als schon nur noch Wasser auf meiner Haut war konnte ich den Blick nicht davon abwenden. Es war wie ein Wunder, ein tödliches Wunder, das seine Opfer fordern würde. Ich spürte wie der Tod seine knochigen Finger nach mir ausstreckte, doch ich war bereits zu seinem Schatten geworden.
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MIRA
FantasyEine Krankheit breitet sich in Alliera aus und bringt Mira dazu aus ihrer Heimatstadt Fiadah zu fliehen und sich auf den Weg in die Hauptstadt zu machen. Als sie endlich wieder Arbeit findet, führen viele seltsame Umstände zu einer Bekanntschaft, mi...