Kapitel 8: Ankunft und Abschied

34 8 0
                                    

Wir waren bereits fünf Tage unterwegs als die nächste Person sich unserem Weg anschloss. Wobei sie nicht die Wahl hatte, keiner hatte die Wahl. Ihr Name war Kathrina und sie war bestimmt schon Mitte 40, ich glaube das war auch einer der Gründe, warum er ihr nicht seine Überlebenstipps mitteilte. Jedenfalls war seit ihrer Anwesenheit die Konservation komplett zum Erliegen gekommen, was unter anderem daran liegen könnte, dass sie die erste Stunde durchgängig die Leute angeschrien hat, sie sollen sie rauslassen. Das wurde durch einen gezielten Schlag in ihre Magengrube gestoppt, seit dem ist sie still und wir auch.

Ich wünschte sie wäre nicht hier, dann könnte ich mich wenigstens mit Jeremy unterhalten. Seit dem Tag, als ich in den Wald gebracht wurde, weiter kann ich daran nicht denken, haben wir allerdings nicht mehr viel geredet und wenn dann nicht darüber. Ich hatte sein Mitleid gesehen. Wahrscheinlich hat er mich schreien gehört. Ich hatte dem Mann wohl meine Fast ins Gesicht gerammt, zu mehr hat es jedoch nicht gereicht. Wie konnte Jeremy nur denken, ich könnte abhauen. Ich käme nicht weit und der Mut dazu fehlte mir auch.

Nach dem Tag wurde ich zuerst in Ruhe gelassen, doch vorgestern kam ein anderer Mann. Da habe ich nicht mehr geschrien oder um mich geschlagen. Ich habe still gelitten. Erst jetzt kam ich auf den Gedanken, ob auch Jeremy mal angefasst wurde, doch wenn, dann hatte ich es nicht bemerkt. Die meisten Männer warfen eher Blicke auf mich. Der Schmerz war mittlerweile wieder zurückgegangen, doch die Scham blieb. Und die Wut.

Ich nippte an der Wasserflasche, die nun für drei Münder reichen musste. Dicht an dicht saßen wir in dem kleinen Wagen, sodass unsere Knie aneinanderstießen. Manchmal, wenn ich es nicht mehr aushielt, dann schloss ich einfach meine Augen und stellte mir vor weit weg von hier zu sein. An die stetige unruhige Fahrt konnte ich mich genauso wenig gewöhnen wie an meinen immerfort hungrigen Magen. Gestern hat es für jeden einen Teller Suppe gegeben, der uns bei Kräften hielt. Das war's. Wir starben nicht, aber wir litten. Ich merkte wie ich körperlich immer schwächer wurde.

Heute dachte ich zum ersten Mal seit Tagen wirklich an meine Schwester und an meine Mutter. Ihre Haut wirkte so bleich an jenem Tag. Als Kathrin neben mir plötzlich begann zu summen, schreckte ich hoch, es war das Lied, das meine Schwester gesungen hatte am letzten Tag als ich sie sah. Tränen schossen in meine Augen und ich schloss sie und drehte mich mit dem Kopf zur Seite in der Hoffnung zu schlafen und damit dieser Welt zu entkommen.

Das Licht hier drin war zwar permanent dämmrig, weil nur durch die schmalen Belüftungsschlitze oben und an den Seiten Licht zu uns hereinfiel, aber ich war mir sicher, dass Jeremy es gesehen hatte. Auch wenn er mich nicht darauf ansprach, er wusste viel mehr als er zugab.

-

In der folgenden Nacht konnte ich kaum schlafen, auch er war wach, das hörte ich an seinem Atmen. Nach einer Weile hörte ich sein Flüstern durch die Dunkelheit wie am ersten Tag als wir uns kennenlernten. „Wir werden bald irgendwo ankommen", sagte er, „wir sind schon lange unterwegs." Ich verstand nicht, was er mir damit sagen wollte, aber er fuhr bereits fort. „Es ist Zeit sich zu verabschieden." „Was redest du da?", fragte ich verwirrt mit Wut in meiner Stimme, darauf bedacht nicht zu laut zu werden. „Du wirst es bald verstehen."

Ungewiss schlief ich irgendwann wieder ein als meine Augenlider so schwer waren, dass ich sie nicht mehr offen halten konnte.

-

„Leb wohl, Amira", hörte ich seine Stimme, fast wie im Traum, daraufhin ein brechendes, lautes Knacken von Holz und einen harten Aufprall auf dem Boden. Ich saß aufrecht und als ich verstand, was hier vor sich ging, nahm ich schon von vorn lauter werdende Stimmen war. „Du mieser Verräter", dachte ich, als ich aus der Situation heraus ihm hinterher springe in den kalten Morgen. Der Wagen und mit ihm der gesamte Trupp hatte nun angehalten und hinter mir schrien die Männer, die jetzt auch verstanden hatten, was hier vor sich ging.

Noch nie in meinem Leben bin ich so schnell gelaufen. Ich hechtete in die erst beste Richtung. Einfach weg von hier, das war meine einzige Chance. Natürlich wusste ich sehr gut, was Jeremy gesagt hatte, aber es war keine Zeit jetzt darüber nachzudenken, ich war bereits draußen, jetzt musste ich mich an die Freiheit klammern, bevor sie mir erneut entrissen werden konnte.

Schritte verfolgten mich, mehrere. Ich lief immer weiter, bis ich in ein bewaldetes Gebiet kam. Das Laub raschelte, meine Verfolger waren immer noch hinter mir. Doch ich fand eine große Hecke, die unscheinbar, aber perfekt für mich war. Meine Beine schrammten sich an den Dornen auf, meine Kleidung zerriss, aber ich nahm nichts davon war außer die Flucht.

Die plötzliche Stille, die über mich kam, als ich still und hilflos in meinem Versteck lag, betäubte meine Ohren. Jedes leiseste Geräusch könnte mein Ende bedeuten. Entfernt hörte ich etwas anderes, vielleicht Tiere, die durchs Laub huschten und dann wieder Schritte, nach Atem Ringende, während ich den Atem anhielt.

Ich wartete minutenlang, obwohl schon nach wenigen Momenten andere Richtungen eingeschlugen wurden. Jeremy hatte nichts gesagt, warum hatte er nichts gesagt? Ich war sauer auf ihn und ihm gleichzeitig unendlich dankbar. Er hatte mich verraten, mir immer davon abgeraten zu fliehen und es jetzt selbst getan. Aber er war ebenfalls die perfekte Ablenkung gewesen, denn sie konnten uns nicht beide verfolgen. Ob er gewusst hatte, dass ich auch fliehen würde, wenn er es täte? Ich wünschte ihm, dass er es geschafft hatte, ja plötzlich hatte ich große Angst, er hätte es nicht schaffen können und würde nun gefoltert werden auf die schlimmsten Weisen. Ich hoffte so sehr, dass er jetzt auch irgendwo lag, wo er zumindest für den Moment in Freiheit und in Sicherheit war.

Ich konnte mich lange nicht beruhigen. Mein Herz raste so schnell, dass ich unwillkürlich an meine Brust faste um mein Leben zu spüren. Ich konnte es einfach nicht fassen. Ich war wieder draußen. Und ich lebte.

MIRAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt