Kapitel 66: Übernachtung bei Fremden

6 2 0
                                    

Es war sinnlos mich unwissend zu stellen, doch ich wollte auch nichts verraten. Vor allem wollte ich meine Überraschung nicht zeigen, solange ich seine Motive nicht kannte. Er hatte mir geholfen, aber warum?

„Wer seid Ihr?", fragte ich erneut. „Auf wessen Seite steht Ihr?", präzisierte ich dann. „Ich schätze auf der selben wie du." Ich zog eine Augenbraue hoch, wirklich?„Warum helft Ihr mir?" Darauf schwieg er. Es schien als wollte er seine Beweggründe nicht mit mir teilen. Ich dachte mir meinen Teil. „Danke", brachte ich irgendwann raus. Daraufhin nickte er knapp, „du solltest versuchen noch ein wenige Schlaf zu bekommen, bevor die anderen morgen eintreffen." Er brachte mich in einen noch kleineren Raum, in dem ein Bett und kleiner Tisch standen. „Hier kannst du die Nacht verbringen." Ich sah ihn an, unsicher, dankbar, verwirrt. „Bist du... einer von ihnen - von uns, meine ich?" Er sah mich nicht an als er langsam nickte, „ja, ich schätze das ist die Bedeutung von auf einer Seite stehen." „Dann bist du auch in Kontakt mit den anderen? Spio-" Blitzschnell war er bei mir und hielt meinen Mund zu, bevor ich auch nur einen weiteren Laut über die Lippen bekam. „Wir sprechen nicht darüber", flüsterte er leise. Dann sagte er wieder etwas lauter. „Ich habe meine Aufträge hier... von daher würde ich eher sagen, die anderen", er sah mich scharf an, „sind in Kontakt mit mir - nicht andersherum." Er lehnte sich in den Türrahmen mir gegenüber und ich nickte langsam.

Mir brannten noch mehr Fragen auf den Lippen, doch ich hielt mich zurück, während er mich prüfend betrachtete. „Warum haben sie dichgenommen?", fragte er dann. Er wirkte dabei gar nicht voreingenommen sondern eher verwirrt, als wolle er es wirklich wissen. „Empfehlungen." Er zog eine Augenbraue hoch, also erklärte ich: „Ich habe Talente, die man nicht sofort erkennt." „Davon gehe ich aus", entgegnete er.

Er wollte schon den Raum verlassen, als ich ihm nachrief. „Ich hoffe auch, dass mir zu helfen kein Fehler für Sie war." Dann hielt er inne. „Dir zu helfen war keiner. Ich hoffe nur, ich bereue nicht, dein Gesicht gesehen zu haben." Verwirrt runzelte ich die Stirn als er sich abwendete. „Gute Nacht, Sir." „Gute Nacht, Mira." Ich war mir nicht sicher, ob ich mich verhört oder er das A zu Beginn meines Namens nur übersehen hatte... doch ein ungutes Gefühl blieb bei mir zurück als ich mich auf das harte Bett kauerte und vergeblich darauf wartete vom Schlaf übermannt zu werden.

Ich war wach, bevor die Dämmerung anbrach und auf den Beinen bevor die Stadt sich in Bewegung setze. Unter genauerer Begutachtung, bemerkte ich, dass die kleine Wohnung, in der ich mich befand aus nicht viel mehr Räumen bestand als denen, die ich bereits kannte. Kein weiteres Bett war aufzufinden und mein Gastgeber genauso wenig. Ich hätte mich gerne noch einmal bedankt, doch war gleichzeitig froh einer weiteren Begegnung entfliehen zu können. Irgendetwas an dem Mann war merkwürdig gewesen, auch wenn ich noch nicht erahnen konnte was es war.

Die Rebellen - in meinem Kopf nannte ich sie immer noch so, mich selbst ausgeschlossen - würden über den Tag verteilt in der Hauptstadt eintreffen. Und so wartete ich. Gerade heute war ich besonders vorsichtig. Ich durfte mich nicht verraten. Meine auffallend roten Haare waren unter einem neuen Stoff versteckt. Graublauer, den ich in den frühen Morgenstunden erworben hatte. Meine Hosen und Schuhe behielt ich allerdings an und hoffte, es würde ausreichen um unerkannt zu bleiben. Schließlich durfte ich nicht meine Beweglichkeit verlieren.

Ansonsten hatte ich mir etwas Brot, einen Käse und zwei Äpfel gekauft, die ich bezahlte ohne den Verkäufern in die Augen zu sehen. Die Zeit verstrich langsam und ich wurde immer nervöser. Doch ich hatte gelernt, dass Ängste uns verwundbar machten, Zweifel uns verrieten. Also lenkte ich mich ab, ich trieb mich in sicheren Gebieten der Stadt umher, schnappte ein paar Gesprächsfetzen hier und da auf, aber riskierte keine Demaskierung. Ich war nur ein Mädchen in unscheinbarer Kleidung, die durch die Stadt strich. Ich war eine unter vielen. Eine Unbedeutende, eine Unsichtbare - eine Unbesiegbare. Die Rebellen fanden mich. Aber für alle anderen verschwand ich von der Bildfläche. Sie nahmen mich nicht mehr wahr. Ich wurde zum Schatten einer Stadt, allgegenwärtig, allwissend, hinter jedem her und für niemanden greifbar.

Ich sah ihn kommen, bevor er mich sah. Auch, wenn ich das nicht zeigte. Wir waren Teil eines großen Plans. Spielfiguren in unseren Rollen. Ganz bewusst hatte ich mich an diesem Platz eingerichtet. Niemand würde Verdacht schöpfen und ich konnte ihm alle Hinweise geben, die er brauchte. Es war bereits Nachmittag. Er führte ein Pferd hinter sich her. Er zeigte sein Gesicht. Im Gegensatz zu mir. Ich eilte ihm entgegen. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?" Ich spürte den winzigen Moment seines Zögerns, als ich die Zügel bereits in den Händen hielt. Es gab mir ein Gefühl der Genugtuung, er hatte mich tatsächlich nicht erkannt. „Wir bieten großräumige Ställe, das kann ich Ihnen versichern, folgen Sie mir."

Ich führte Will mitsamt Pferd in eine kleinere Gasse. Wir gingen durch unbeachtete Randstraßen, schattige Wege und über einen versteckten Hinterhof bis ich mich sicher genug fühlte mich zu ihm umzudrehen und in meiner normalen Tonlage „endlich, ich dachte schon, du kommst nie" raus zu bringen. Ich klang wohl besorgter und unsicherer als beabsichtigt, sodass er kurz lächelte und mich dann in eine Umarmung zog. Ich atmete tief durch, bevor ich mich von ihm löste und ein selbstsicheres, schiefes Grinsen aufsetze, nach dem ich mich zwar nicht fühlte, aber das mir, je länger ich es auf dem Gesicht behielt, gar nicht mehr so fremd vorkam. „Was genau, soll das, hm?" Obwohl ich das Gefühl hatte, dass er mich irgendwie durchschaute, hielt ich mein äußeres Selbstbewusstsein vor mir aufrecht und zuckte mit den Schultern. „Komplikationen." Er zog eine Augenbraue hoch. Im selben Moment beschloss ich, die Geschichte darüber, was am gestrigen Abend geschehen ist, nicht mit ihm teilen zu müssen. „Es war nicht mehr sicher in dem Gasthaus, ich hatte das Gefühl, die haben etwas geahnt, da kam es mir sicherer vor, euch anderswo zu treffen - oder zumindest mich selbst dort nicht mehr allzu oft zu zeigen." Ich war mir nicht sicher, ob er das schluckte. Doch nach ein paar Momenten nickte er langsam. „Hast du etwas Wichtiges herausgefunden, ich meine, abgesehen von den Abläufen und Orten, etwas, was wir wissen sollten?" Ich war immer noch darauf fokussiert, meine eigene Schwäche nicht zu verraten. „Nein, nein, ich denke nicht", entgegnete ich. „Bist du dir sicher? Auch Kleinigkeiten können an Bedeutung gewinnen, irgendetwas, was im Palast vor sich geht?" Ich runzelte die Stirn. Warum so spezifisch? „Nichts, was wir nicht schon wüssten oder was Einfluss auf uns hätte. Du weißt, dass ich nicht im Palast war und ich habe genauso wenig zu Bediensteten, die hier in der Stadt leben, Kontakt aufgenommen. Das Risiko wäre es nicht wert gewesen." Er nickte nur langsam und ließ mich nicht aus den Augen. „Oder willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?" „Nein. Nein, ich wollte nur sicher gehen, dass wir keine Fehler machen." In mir drin lachte eine kleine unsichere Stimme. Keine Fehler? Das war nahezu unmöglich. Bei der Sicherung, den Wachen, der Angst, die jeden befiel und an den Menschen nagte. Aber ich sagte Will nichts davon.

Stillschweigend sahen wir einander an. „Ist sonst alles okay mit dir?" Ich merkte sofort, dass er auf etwas anderes abzielte. Eben war es ums Geschäft gegangen. Jetzt wollte er mich. Die hinter den dunklen Schatten. „Ja", stieß ich hervor, aus Zweifeln daran, ob ein Nicken allein aussagekräftig genug gewesen wäre. „Okay." Er sah mich einen weiteren Moment abschätzig von der Seite aus an, als wollte er sicher gehen, dass ich ihm nichts vorspielte. Doch ich war längst zu gut darin. Kurz hatte ich überlegt ihn nach Jeremy zu fragen, aber wenn ich genauer darüber nachdachte, kam es mir sehr dumm vor. Also schluckte ich die Fragen herunter, sogar die über Fine, drückte meinen Rücken durch und setzte ein Lächeln auf.

Natürlich nahm Will das wahr, wir beide waren zu vertraut miteinander, um diese Dinge nicht wahrzunehmen, aber gleichzeitig wussten wir, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, darüber zu sprechen, falls es überhaupt jemals einen guten geben würde. „Ich kenne einen Ort, an dem wir die Nacht verbringen können", sagt Will.

Ich hielt immer noch die Zügel seines Pferdes in der Hand und versuchte unauffällig meine Faust zu lockern, die sich um die Lederriemen verkrampft hatte. „Gehen wir?"

MIRAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt