Kapitel 38: Abschied

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Am nächsten Morgen erhielt ich ein versiegeltes Dokument. Neben einigen Fragen über Nordtor als Stadt, wollten sie Informationen über meinen Geburtsort, meine Familie, wer im Stadtregister eingetragen war. Es ging angeblich um neue Sicherheitsbestimmungen.

Aber ich wusste, dass es hierbei um mich ging, mich ganz speziell. Sie wollte mich loswerden. Ich hatte ein echtes Problem, denn ich hatte keine Antworten. Meine Arbeit und mein Bett hier zu verlieren waren wahrscheinlich noch meine kleinsten Sorgen. Wenn heraus kam, dass ich aus Fiadah geflohen bin, lange nach den ersten Todesfällen, dann würde ich eingesperrt oder hingerichtet werden – für Flucht aus einer geschlossenen Stadt und Gefährdung des Landes. Vor allem, wo ich jetzt im Palast direkt vor der Königsfamilie war. Ich hatte die Krankheit nicht, das wusste ich. Zumindest nicht von zu Hause, dafür war ich schon zu lange hier. Aber damit kam ich nicht durch, nicht wenn die Todesursache meiner nächsten Verwandten Mira war. Unter keinem Umstand durfte jemand das erfahren. Aber ich wusste beinahe nichts über die Hauptstadt meines Landes. Zumindest nichts von dem Leben dort, Antworten, die nur echte Bewohner kannten.

Der Tag verstrich und die Papiere lagen weiterhin unbeschrieben auf meinem Bett. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab. Etwas hielt mich wach und schürte die Unruhe in mir. Am Nachmittag wurde meine Zimmertür geöffnet und der Prinz trat ein. Die Tür wurde wieder geschlossen, wir waren allein. Ich stand auf, machte einen tiefen Knicks. „Eure Hoheit, Prinz Ilan David Levis, wie kann ich Euch weiterhelfen", ich bemühte mich neutral zu klingen. Als er sich räusperte richtete ich mich wieder auf. Da war so viel Distanz zwischen uns. Sein Blick ruhte auf den Zetteln, er zog eine Augenbraue hoch, ehe er mich ansah. „Ich wusste, dass du nicht von hier bist." Ich hielt den Kopf gesenkt. „Weißt du, das ich in dieser ganzen Stadt", er deutete eine allumfassende Geste an, "wahrscheinlich der einzige bin, der immer noch für dich argumentiert? Ich habe keine Lust mehr auf deine Lügen, ich dachte, du wärst ein ehrliches, vertrauenswürdiges Mädchen, dem ich eine Zukunft bieten könnte. Ich dachte ich könnte meinem Land irgendwie helfen. Aber du hast uns alle verraten. War überhaupt irgendetwas von deinem Auftreten echt." Ich wagte es nicht etwas darauf zu erwidern. „Je öfter ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich es."

Da fiel mir plötzlich wieder eine Geschichte ein, die mir meine Mutter immer vorgelesen hatte als ich noch nicht lesen konnte und selbst als ich es erlernt hatte bettelte ich ein ums andere Mal darum, sie nur ein weiteres Mal hören zu können. Die Geschichte über den Namen der Stadt in der ich gelebt hatte.

Die kleine Fiadah war eine Diebin. Obwohl ihre Mutter immer gesagt hatte, dass sie nicht stehlen solle, tat sie es dennoch um ihr eine Freunde zu machen. Eine Hand Beeren vom Stand, ein Strauß Blumen vom Beet der Reicheren. Als sie älter wurde hatte sie Geld um sich die notwendigsten Dinge leisten zu können, sie war immer um Freundlichkeit bemüht und beschenkte die Armen. Doch als das Land immer ärmer wurde, musste auch sie wieder stehlen um am Leben zu bleiben. Es war Krieg. Irgendwann war selbst ihre letzte Kupfermünze ausgegeben, Märkte schlossen und es gab niemanden, den sie hätte beklauen können ohne andere Leben zu gefährden. Da beschloss sie Ehrlichkeit über Falschheit zu stellen, Wahrheit über Lüge, Gerechtigkeit über Brot. Sie kämpfte. Bis sie am ersten Frühlingsmorgen von den wärmenden Sonnenstrahlen nicht mehr geweckt wurde. Doch sie sollte niemals vergessen werden, das Land dankte dem Mädchen mit den Werten eines ganzen Landes und so gaben sie die Worte, die sie prägte, weiter, von Generation zu Generation: Ehrlichkeit über Falschheit, Wahrheit über Lüge, Gerechtigkeit über Brot.

„Ich komme von dort, wo man Gerechtigkeit über Brot stellt", flüsterte ich also. „Und wenn Ihr mich dafür in den Kerker werft, dann muss es wohl so kommen." Er wirkte überrascht. „Fiadah?" Ich lächelte ein wenig bei dem Klang des Namens meiner Heimat. Natürlich kannte er die Geschichte. Sie stand in den Märchen der alten Welt. „Das ist ein ganzes Stück, ist deine Familie mit dir nach Nordtor gezogen?" Er gab mir eine Chance. Und ich wollte sie ergreifen. „Nein, ich bin allein gekommen." „Wann?" Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte es nicht sagen. „Füll die Papiere aus", riet er mir. Dann öffnete er meine Tür und sprach zu den Wachen davor: „Bis auf weiteres kann das Mädchen sich wieder frei bewegen." Ich konnte ihn nicht loslassen. Meine Augen verfolgten ihn. Warum hatte er das getan? Vertraute er mir etwa? Nach allem, was er mir unterstellte?

Ich wollte die Gutmütigkeit des Prinzen nicht herausfordern, also vermied ich sämtliche Wege zu den Gemächern der Prinzessinnen. Stattdessen trat ich vielleicht zum letzten Mal in die Schlossbibliothek. Der Geruch alter Seiten umhüllte mich schlagartig. Ich hatte ganz vergessen wie es war hier zu sein, es erschien mir wie ein glücklicher Ort, wo ich ein letztes Mal Zuflucht suchen konnte, bevor die Gemäuer um mich herum zu bröckeln beginnen würden. Wenn der Palast mich nicht in den nächsten Tagen verbannte, auf welche Weise auch immer, dann würde entweder Ilan oder Ivana es tun. Dessen war ich mir sicher. Sie konnten mich nicht hierbehalten, wenn ich ein Risiko darstellte. Das eigentlich schlimme war ja, dass ich es wusste und trotzdem nichts dagegen tat – was auch?

Schweren Herzens nahm in die Bücher rings um mich auf bis ich bei jenem stehen blieb, das mich vor Monaten auch zum zweiten Mal hinsehen getrieben hatte. Der kleine Geheimraum des Prinzen wirkte jetzt auf mich ganz anders als beim ersten Mal. Damals war er wie ein kleines Wunder, die ganzen Dokumente und Hinweise und die Person, die dahinter steckte. Jetzt kannte ich den Prinzen und ich sah den Staub, sah darin die Last die ihn verändert hatte, die Zeit, die ihm gestohlen wurde. Viel zu selten kam er in dieses Versteck, das nichts anderes war als das. Ein Versteck vor den eigenen Ängsten, ein Versteck vor dem Handeln, vor der Realität. Aber dennoch fühlte ich mich diesem Ort mehr verbunden als meinem eigenen kleinen Zimmer, mehr als den Gemächern, in denen ich die meiste Zeit verbrachte, sogar mehr als dem eiskalten Garten. Obwohl dieser kleine Raum in keinerlei Hinsicht unserem Haus in Fiadah ähnelte, kam es mir dennoch wie ein zu Hause vor. Hier fühlte ich mich wie ich selbst. Und es war wie ein Abschied als ich Ilan, Kronprinz Allieras, meine letzte Nachricht hinterließ.

Rätsel lösen ist einfach,

wenn du dahinter blickst,

löse dieses nun zweifach,

und alles ergibt sich für dich,

denn reimen kann hier jeder, a-

ber denken fast keiner.

Es gibt mehrere Wege,

doch dieser ist meiner.

Er sollte mittlerweile hinter die seltsame Worttrennung gekommen sein, die in jedem Gedicht einen weitern Buchstaben meines Namens offenbarte. Und wenn nicht, dann wäre es auch nicht mehr wichtig. Ich wollte nur zu Ende bringen, was zu vollenden war.

In der Küche brühte ich einen frischen Tee für Ivana auf. Mit Zitrone und Zucker. Die Frauen, die arbeiteten, schenkten mir nur wenige Blicke, sie hatten mitbekommen, dass ich weggewesen war. Dass etwas mit mir nicht stimmte. Trotzdem fragte ich ein besonders junges Mädchen, ob sie das Tablett zu ihr bringen könnte. Ich hatte mitbekommen, dass die Prinzessin noch keine neue Zofe hatte. Im Augenblick war sie wohl ganz allein mit ihren Kleidern und ihrem ständigen Gefühl weder dem zu entsprechen was sie sein solltenoch dem was sie sein wollte. Unsicher wartete das Küchenmädchen ab, bis ihr eine Frau mittleren Alters zunickte. Ich kannte sie, wir hatten uns öfter mal kurz unterhalten, erst jetzt viel mir auf, dass ich sie nie nach ihrem Namen gefragt hatte. Ich lächelte leicht, aber da wand sie sich schon wieder ab. Alle hatten jede Menge zu tun, nur ich nicht. Das Mädchen war mitsamt dem Tee schon aus der Tür verschwunden.

Ich hatte sämtliche Stabilität meines Lebens verloren, war nur noch ein Mädchen ohne Stärke, ohne Stütze, ohne Aufgabe. Niemand kannte mich, niemand brauchte mich, niemand sah mich. Meine bloße Existenz hatte an Sinn verloren. Meine Geschichte war geschrieben.

MIRAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt