Kapitel 40: Der Junge

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Das dämmrige Licht wurde zu meiner neuen Helligkeit. Meine Kleidung wirkte trotz des daran haftenden Schmutzes hell im Vergleich zu den Wänden, die alles Sichtbare verschluckten und mich allein und nackt fühlen ließen. Gedämpftes Flüstern drang immer wieder aus den Fluren zu mir heran, doch ich hielt meine Augen geschlossen, stellte mich schlafend, falls das überhaupt noch jemanden interessierte, und ließ meine Gedanken wandern. Ich war bereits jede Möglichkeit durchgegangen, was ich hätte anders machen können und dennoch war ich immer noch hier. Bisher hatte sich hier unten kein bekanntes Gesicht blicken lassen und es war auch niemand gekommen, mein Urteil vorzubereiten. Wahrscheinlich gab es zu viele dringendere Fälle. Vielleicht würde man mich einfach vergessen – mir sollte es recht sein. Zweimal am Tag brachten Sie mir Brot und Wasser, doch ich hatte bereits vergessen, wann es Tag und wann es Nacht wurde, hier unten brannten nur schwache Fackeln, wir lagen tief unter der Erde. Das hier war ein Grab.

Ich schlief die meiste Zeit des Tages. Niemand interessierte sich für ein Mädchen in den Verliesen des Landes. Die Zellen waren immer zweiergebündelt, wahrscheinlich um Materialien zu sparen. Links von mir befand sich eine harte Wand aus Stein, doch rechts waren nur Gitterstäbe, genauso wie zum Flur hin. Immerhin war die Zelle, die an meine grenzte leer und ich betete, dass es so bleiben würde, während ich mich in die einzige Ecke kauerte, die mir das letzte bisschen Sicherheit und Diskretion verschaffte.

Der einzige Gedanke, der mir immer wieder nahe ging, war die Frage danach, wer hierfür verantwortlich war. Es ergab keinen Sinn, warum ich hier war. Wer hatte mich verraten? Wer wollte mein Leben unbedingt beenden? Ich hatte keine Antwort. Also ließ ich nur ab und zu meine Lider für ein paar Momente flattern und blinzelte auf die Wachen, die ihre Runden gingen und dabei auch an meiner Zelle vorbei liefen – ohne dass mir etwas Bemerkenswertes auffiel.

Immer, wenn es wieder Essen gab, zwang ich mich zuerst mein Mantra aufzusagen:

Ich bin ein guter Mensch. Ich habe das Richtige getan. Ich habe die Gerechtigkeit oben angestellt. Mein Leben wird sich zum Guten wenden. Ich werde überleben.

Dann aß ich das Brot in aller Ruhe auf und genoss jeden Schluck des Wassers.

Es waren bereits einige Tage vergangen als ich eine Bewegung in der Zelle rechts von mir wahrnahm. Zuerst dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet. Die fehlende Bewegung und Sonne, machte meinen Sinnen zu schaffen, aber dann sah ich es wieder. Leise richtete ich mich auf und trat näher an die metallenen Gitterstäbe, die mein Leben von dem eines anderen trennten. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte kaum etwas erkennen. Doch dann hörte ich eine Bewegung und fuhr ein Stück zurück, als sich graue Hände um die Stäbe zwischen uns schlossen.

„Wer ist so neugierig und unvorsichtig, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?"

Beinahe hätte ich gelacht. Wollte er mir Angst machen? Wir waren bereits eingesperrt in einem Gefängnis. Er konnte mir nichts anhaben. Doch mir war weder nach lachen noch nach sprechen zu Mute.

Das Gesicht des Jungen rückte ganz nah an das Metall und ein ungutes Gefühl schlich sich in mir ein als ich seine unruhigen Augen sah.

„Willst du meine Geschichte hören?"

Wider aller Vernunft nickte ich und ließ mich vor den Stäben nieder. Er tat es mir nach. Wir hatten jetzt eins gemeinsam, wir waren Verbrecher. Und ich fürchtete mich nicht mehr. Also begann der Junge zu erzählen und ich hörte zu.

Er kam aus einer kleinen ziemlich südlichen Stadt des Landes, die ich nicht kannte. Seine Mutter hatte von Mira gehört, schon bevor sie das Land erreicht hatte und ihren einzigen Sohn weggeschickt, in der Hoffnung er möge in Sicherheit sein. Danach war er lange unterwegs gewesen. Auf meine Frage hin erklärte er außerdem, dass er bereits seit einigen Wochen hier war und die Krankheit nicht hatte. Die von denen man sicher wusste, dass sie infiziert waren hatte man in ein besonderes Abteil gebracht. Ich dachte daran zurück, dass ich es bei meiner Schwester und meiner Mutter vorher auch nicht bemerkt hatte. Doch als er meine Bedenken bemerkte, versicherte er mir, dass der Husten auffällig war und die Stille die einkehrte. Ich nickte, aber glaubte ihm nicht. Ich hatte die Toten gesehen, die Mira hinterließ, hatte die Kranken gesehen genauso wie die Gesunden und trotzdem hatte ich bei meiner eigenen Familie nichts bemerkt. Hatte ich mich etwa zu sehr in Sicherheit gewogen um etwas zu bemerken?

Wir beschränkten unser Gespräch auf wenige knappe Sätze, uns war durchaus bewusst, dass jederzeit genug neugierige Ohren hätten zuhören können, selbst wenn wir flüsterten. Je mehr ich über seine Geschichte nachdachte, desto unsicherer wurde ich mir mit dem, was ich wusste. War der Junge überhaupt vertrauenswürdig? Er hätte sich genauso gut alles ausdenken können – vielleicht hatte er das auch, wie könnte ich es ihm verdenken? Es war gefährlich seine echte Geschichte zu erzählen. Jeder hatte seine Geheimnisse und ich spürte, dass nicht alles von dem, was er berichtet hatte wahr sein konnte. Wie konnte er sich so sicher sein wie Mira war, wenn die Krankheit nie seine Heimat erreicht hatte? War er ihr auf dem Weg hierher begegnet? Die Begebenheit warum er hier war hatte er unerwähnt gelassen, genauso wie ich über meine Geschichte schwieg. Worte gegen Worte - keiner wollte nur geben ohne etwas dafür zurückzubekommen. Wir waren ganz unten angelangt, hier gab es keine Hierarchie, wir waren nichts mehr wert, wir beide, wir waren gleich. Und diese Tatsache verband uns auf eine beunruhigende Weise, von der ich vorher noch nie gewusst hatte.

Ich kannte nicht einmal den Namen des Jungen, der mir unmerklich zunickte, bevor ich begann an meinem Stück Brot zu kauen, als würde er mir einen guten Appetit wünschen. Aber obwohl ich wusste, dass auch er log, begann ich ihn zu mögen, zumindest in der Hinsicht, dass wir nun Verbündete waren – verbündet gegen das System, das uns hier festhielt.

Nachts hatte ich schreckliche Alpträume, die mich schlecht schlafen ließen. Wenn ich wach wurde, war ich in einem dunklen Verlies weit unter der Erde. Der Gestank, die Kälte und der harte Boden, der durch eine behelfsmäßige Schicht aus Holzbalken und Stroh als Bettersatz nicht besser wurde, machte mir die Vorstellung in meinem Bett im Einzelzimmer der Zofe der Prinzessin zu liegen schier unmöglich. Der wache Zustand war kaum besser als der, wenn ich schlief.

Das Wasser, an dem ich nippte schmeckte abgestanden und ich schloss die Augen, die Gefühlsansturm, der in mir tobte, ging nur mich etwas an. Lautlos bewegte ich meine Lippen zu den Worten, die von meinem Mantra noch geblieben waren: Ich bin ein guter Mensch. Ich habe das Richtige getan. Ich werde überleben. Der Rest war längst zu Staub zerfallen.

„Ist nicht so leicht, sich damit aufzufinden eine Gefangene zu sein, was?" Ich drehte mich zu dem Jungen aus der Zelle neben meiner um und erwiderte seinen Blick. Irgendetwas in seinen Worten hatte mich aufhorchen lassen und ein ungutes Gefühl mischte sich zu meinem knurrenden Magen. Nur, dass ich nicht wusste, was es war. Jetzt bist du eine Gefangene, finde dich damit ab.Ich kam nicht drauf, auch wenn das Echo seiner unheilvolle Stimme mich noch lange verfolgte, selbst als der Klang schon längst hätte verklungen sein sollen.

MIRAWo Geschichten leben. Entdecke jetzt