Kapitel 2: Veränderung

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Die kalte Jahreszeit machte uns allen wirklich zu schaffen. Wenn die Temperaturen erst einmal unter den Gefrierpunkt sanken, mussten viele Menschen um ihr Leben bangen.

Als ich an einem dieser kalten Novemberabende nach Hause kam, war meine Schwester schon da, denn ich hörte sie singen. Ich konnte jede Menge nicht, die meine Schwester konnte, obwohl sie im Januar erst sechzehn wurde und ich bald schon siebzehn. Aber singen, dass konnte ich. Wir konnten es beide und es gehörte uns beiden. Mit meiner Schwester zu singen gehörte zu den schönsten Momenten meines Lebens, weil ich mich nicht mehr wertlos fühlte. Der Einklang unserer Stimmen erfüllte mich. Früher waren wir manchmal zusammen auf die Straße gegangen und hatten uns von dem Geld, das Leute uns fürs Singen gaben Süßigkeiten bei einem kleinen Laden am Mark gekauft. Doch das ist lange her. Wir sangen mehr Zuhause in unsere bekannten Räumen, wo wir unter uns waren.

Als ich Bella nun singen hörte, musste ich lächeln, weil es mich ein bisschen die Zukunft vergessen ließ. Manchmal dachte ich, dass sie dachte, ich hätte mich gar nicht dafür interessieren und mich nur auf sie und unsere Mutter verlassen. Mehrmals in der Woche sagte sie halb scherzhaft, halb ernst, ich sollte nicht so faul sein. Dabei arbeitete ich auch. Nur nicht so wie sie. Doch das verstand sie nicht wirklich. Sie sah manchmal nur sich und ihre Noten, weil unsere Mutter sie täglich danach fragte um ihr die Wertschätzung zu geben, die die Zukunft unserer Familie brauchte.

„Hey Mira", grüßte sie mich flüchtig. Sie stand am Herd, sang und laß gleichzeitig ein Buch über die historische Entwicklung Allieras in den ersten drei Zeitaltern. So würde ich nie sein. Ich interessierte mich nicht für Geschichte und verbrachte meine Freizeit damit im Bett zu liegen, meiner Schwester dabei zuzuhören wie sie von Themen erzählte von denen ich nichts wusste und manchmal laß ich ein paar alte Bücher, die wir Zuhause hatten. Keine schulische Fachlektüre um mich zu bilden oder so, einfach nur aus Spaß an den Geschichten der anderen Welten, die erzählt wurden. Aber Bücher sind teuer zu teuer für ein Mädchen wie mich, das nur in einer immer mehr herunter kommenden Gaststätte arbeitete.

Ich liebte Bella. Auch wenn ich es nicht zeigen konnte und meine Gefühle viel zu oft das Gegenteil sagten. Meine Mutter schwärmte immer von ihr und ihrer jungen Schönheit, die ihr viele Leute, nicht nur meine Mutter, nachsagten. Und dann sagten die Leute, dass ihr Name so gut zu ihr passte.

Ich wusste nicht wirklich was Amira bedeutete. Aber ich habe es auch nie gefragt, weil ich es im Grunde gar nicht wissen wollte. Wahrscheinlich wusste meine Mutter es selbst nicht. Ich fand den Namen scheußlich, weswegen ich mich Mira nannte, das war durchaus ertragbar. Ist ertragbar gewesen. Denn ich hatte alle Menschen um mich herum beinahe ausschließlich dazu gebracht, mich nicht Amira zu nennen. Außer meiner Mutter und meiner engagierten Deutschlehrerin die mir in den drei Jahren Grundausbildung das Lesen beibrachte, wofür ich ihr bis heute überaus dankbar war, hatten sich auch immer alle daran gehalten. Das ist auch kein Problem gewesen. Bis Mira kam. Mira, die Krankheit. Mira das Böse, Miri das Leid, der Untergang – der Tod. Es war vollkommen egal was mein Name wirklich bedeutete, denn für jeden einzelnen Menschen in Fiadah und wahrscheinlich in ganz Alliera bedeutete er nur noch das eine. Die tödliche Krankheit, gegen die es keine Heilung gab. Ich hasste meinen Namen. Doch man gewöhnte sich schnell an den Sprachgebrauch und zumindest meine Mutter und meine Schwester sprachen, wenn sie darüber sprachen, in meiner Gegenwart immer von der Krankheit.

Meine Mutter stand in letzter Zeit unter großem Druck. Die Menschen hatten kaum Geld um sie zu bezahlen. Kinder und besonders schlimme Fälle behandelte sie trotzdem. Sie war Heilerin, ein Beruf der von der Regierung und den meisten Leuten, die etwas zu sagen hatten nicht sehr geschätzt wurde. Heilerinnen galten als Hexen, die die Menschen so beeinflussten, dass sie ihnen auch ihr Geld gaben, mit ihren Kräutern vernebelten sie den Menschen das Denken, hieß es. Doch die Bürger Fiadah kamen trotzdem zu meiner Mutter. Nicht weil sie wussten, dass diese Gerüchte nicht stimmten, sondern weil ihnen keine andere Möglichkeiten blieb. Weil sie Hoffnung hatten und weil sie meiner Mutter vertrauten. Ich bin als Kind nie lange krank gewesen und hatte nie an den Künsten meiner Mutter gezweifelt. Früher habe ich zu ihr aufgesehen als wäre sie eine Fee, die alles heilen konnte. Seit Mira wussten wir jedoch, dass ihre Künste begrenzt waren. So wie die jedes Arztes in ganz Alliera, denn bisher hatte niemand eine Heilung gefunden. Ich wusste auch, dass meine Mutter keine übernatürlichen Fähigkeiten hat. Sie arbeitete einfach mit ihrem Wissen. Sie hatte ein gutes Gefühl für so etwas. Sie kombinierte gut.

Als wir heute am Esstisch saßen war es still. Ich traute mich nicht ein belangloses Thema anzuschneiden, denn ich spürte bereits, dass etwas in der Luft lag. Ich sah es an den Blicken die Bella mir zuwarf und an dem Blick meiner Mutter, der sich seit sie begonnen hatte zu essen noch nicht wieder von dem Suppenteller gelöst hatte, obwohl wir bereits eine Weile dort saßen. Nur die dumpfe, hölzerne Berührung der Löffel an den Tellern zeigte, dass wir lebten. Nach einer Weile legte meine Mutter ihren Löffel neben den Teller und begann – zu weinen.

Nichts hat mich jemals so sehr aus dem Konzept gebracht wie dieser Augenblick. Schlagartig war mir klar, dass sich etwas verändern würde. Ich wusste nur noch nicht was, doch was es auch war, es konnte nicht so bleiben.

Vielleicht ist eine Bekannte erkrankt, vielleicht ist die Lehreinrichtung für allgemein historisch, sprachlich und künstlerische Fähigkeiten, und damit unsere Zukunft, abgebrannt. Vielleicht mussten wir fliehen.

Doch es kam alles ganz anders.

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