Der siebte Tag kam. Ich hatte nicht geschlafen. Also war ich wach als die ersten Schlüssel zu hören waren, doch ich blieb ruhig. Es konnte Stunden dauern bis Jeremy an der Reihe war und mehr als alles andere mussten wir darauf achten so lange wie möglich unbemerkt zu bleiben. Bloß keine Auffälligkeiten, keine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Dinge würden anders verlaufen, aber niemand sollte die Gefahr kommen sehen. Unglückliche Zufälle würden es sein, wir waren Unschuldige, kaum erwachsen. Wir mussten darauf hoffen, dass die Soldaten und Wachen, das genauso sahen. Ich versuchte meinen Atem regelmäßig und tief zu halten, mein Zittern zu unterdrücken und dann hieß es warten.
Sekunden verstrichen, dann Minuten. Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Dann hörte ich ein Husten, ich schlug die Augen auf. Es war soweit. Wenn nur jemand meinen Herzschlag hätte hören können. „Komm schon Junge", hörte ich einen der Wachen genervt sagen. Jeremy regt sich neben mir und auch ich setzte mich langsam auf. Versuchte teilnahmslos das Geschehen zu überblicken. Keinen Blick warf er mir zu. Das alles war Teil unseres Plans und dennoch schlug mein Herz aus Angst für immer allein zu bleiben viel zu schnell. Er hielt den Blick gesenkt. Sie setzten sich in Bewegung. Komm schon Jeremy, komm schon!, flehte ich. Sie entfernten sich. Vielleicht hatte er es sich doch anders überlegt, vielleicht hatte er gelogen... Doch da blieb er abrupt stehen. Der Wachmann hinter ihm rannte in ihn hinein und begann fluchend sich sein Gesicht zu reiben. „Verdammter Junge!" Doch Jeremy hatte sich bereits gekonnt umgedreht und das Schlüsselbund geangelt. Fassungslos blickten sie sich an. Dann machte er den Mund auf. „Sorry man, aber wir haben wen vergessen." Mein Herz hüpfte und gleichzeitig bekam ich wahnsinnig Angst. Um ihn. Um mich. Um uns beide. Er rannte auf mich zu und schloss dann mit halbwegs ruhiger Hand meine Zelle auf. Ich stand auf den Beinen. Mein Atem ging flach, Tränen standen in meinen Augen, doch wir hatten keine Zeit. Die Wachen waren uns gefolgt und versperrten uns den Weg während von der anderen Seite bereits die nächsten kamen. Da hörte ich ein lautes Klatschen. Der Mann, dem Jeremy die Schlüssel abgenommen hatte, stolperte nun zurück. „Lauf!" Und das tat ich. Wir durften vor nichts zurückschrecken,hatte Jeremy mir erklärt. Jetzt hatte er den Anfang gemacht und ich konnte an nichts anderes mehr denken als daran nicht im Dunkeln sterben zu wollen während wir den Flur entlanghasteten.
Er holte mich ein. Wir bogen rechts ab, kleine unscheinbare Wege,hatte er gesagt. Und wir mussten schnell sein. An der nächsten Abzweigung sah ich mehrere Wachen, also weiter geradeaus. Ich bekam kaum noch Luft, hatte Mühe nicht anzuhalten, mir die Seite zu halten und mich zu übergeben. Türen mit Fenstern führen oft in Treppenhäuser,hatte Jeremy mir eingeschärft. Am besten wir fliehen noch oben, aber wenn es nicht anders geht, könnten wir auch nach unten ausweichen.Doch die Türen die ich sah hatten keine Fenster. Also links lang. „Schneller, Amira." Ich rannte so schnell ich konnte. Meine Augen tränten und ich bekam plötzlich Angst irgendwann einfach umzukippen. Doch dann ging vor uns eine Tür auf. Ich stoppte und wäre beinahe dagegen gerannt. Die Männer, die heraus kamen musterten uns einen Moment. Zögere nicht, hörte ich Jeremy Anweisung in mir wiederklingen. Das ist deine beste Chance.Also schlug ich zu. Schmerz fuhr in meine Hand, aber ich spürte ihn nicht. Ich begann zu treten zu schlagen und dann war ich hinter der Tür. Beinahe hätte ich vor Erleichterung aufgeschluchzt als ich die kalten Treppenstufen sah. Alles in mir drängte nach oben, doch laute Stimmen und Fußgetrappel hielten mich davon ab. Dann nach unten. Wir waren bereits weit unter der Erde, doch die Verliese von Nordtor waren berüchtigt. Wer weiß wie tief sie wirklich gingen. So leise und schnell wie möglich stürzte ich mich in die Tiefe, die mit jedem Meter spärlicher beleuchtet war.
Ein Gedanke ließ mich innehalten. Wo war Jeremy?Ich hielt den Atem an und lauschte auf mögliche Verfolger. Scheiße. Scheiße. Scheiße. Wenn wir uns trennen müssen, dann lauf. Lauf einfach ohne zurückzublicken. Und habe keine Angst.Als hätte er gewusst, dass wir uns verlieren würden. Ich betete, dass er einen Weg gefunden hatte. Dann stolperte ich weiter in die sich verdichtende Dunkelheit. Habe keine Angst, ermahnte ich mich. Ich ließ meine Hand an der kalten Mauer entlangstreifen als ich kaum noch etwas sah. Meine Geschwindigkeit hatte sich verringert, aber ich hielt niemals an. Nach einer Ewigkeit spürte ich etwas. Vorsichtig tastete ich an der Wand entlang bis... Leise schwang eine Tür auf, deren Klinke ich zu packen bekommen hatte. Echte Angst kroch in meine Glieder, aber ich schaffte es immer weiter nach vorne zu gehen, der Wand zu meiner Rechten folgend. Ich spürte Fackeln an der Mauer, doch keine von ihnen war erleuchtet. Anscheinend waren selten Menschen hier unten. Ich werde nicht in der Dunkelheit sterben,versprach ich mir, ich werde überleben. Und so schaffte ich es bis zu einer weiteren Tür. Der Raum dahinter war so klein, dass ich beinahe gegen die gegenüberliegende Wand gelaufen wäre. Doch dann ertastete ich etwas, das meine Beine weich werden ließ. Eine Leiter. Nach oben.
Ich packte eine Sprosse nach der anderen und zog mich nach oben. Die Anstrengung machte sich immer mehr an meinen Kräften bemerkbar. Aber ich ergriff immer noch eine. Und noch eine.
Meine Arme schmerzten entsetzlich unter der Belastung, sodass ich beinahe losgelassen hätte und in die Tiefe gestürzt wäre als meine Hand gegen Holz prallte. Ich zuckte zurück, doch hielt mich mit der anderen weiterhin krampfhaft fest. Vorsichtig strich ich über die Oberfläche. Da war nichts, woran ich hätte ziehen oder drücken können. Also stemmte ich mich mit meiner puren Körperkraft dagegen und knarzend klappte die Platte nach oben auf und schlug dann laut auf den Boden. Frische Luft wehte mir entgegen. Erschöpft kroch ich aus dem Loch und blieb auf dem Boden liegen. Ich war am Ende.
Unendliche Schwere lastete auf meinen Knochen. Wie lange war ich durch die unterirdischen Gänge des Palastes unter Todesangst geirrt? Mein Kopf schmerzte als ich flatternd meine Lider öffnete. Wo war ich? Was war passiert? Ich stützte mich hoch. Ich konnte atmen, der Gestank aus den Zellen war verschwunden. Langsam kam die Erinnerung zurück. Jetzt wusste ich auch wieder weshalb mein Kopf so pulsierte - ich war gestürzt, zusammengebrochen. Die plötzlichen Bewegungen, die Strapazen, selbst unter anderen Umständen nicht zu verachten, hatten mich ausgelaugt. Ich war genau so weit gekommen wie ich es hatte schaffen müssen. Und keinen Schritt weiter. Als ich einen Mundwinkel triumphierend nach oben zog - ich hatte überlebt, hatte es tatsächlich raus geschafft- fuhr ein Schmerz durch meine aufgeplatzte Lippe. Das Lächeln verging mir. Ich war immer noch in Dunkelheit gehüllt und hatte keine Ahnung wo genauich war. Immer noch im Palast zumindest. Wankend stand ich auf und war froh über die Wand, an der ich mich abstützen konnte. Beinahe wäre ich über die immer noch offene Klappe gestürzt. Wie weit führte dieser Schacht nur nach unten? Vorsichtig schloss ich sie. Meine Augen gewöhnten sich langsam an meine Umgebung und erkannte einen helleren Schimmer an einer Seite des Raumes. Ich ging darauf zu, folgte den wenigen Treppenstufen bis zur Decke, wo eine Kiste, ein kleiner Schrank oder etwas Ähnliches den Zugang blockierte. Was war das hier? Ein Geheimgang? Ich hielt den Atem an und schob vorsichtig das Hindernis beiseite, das erstaunlich leicht war. Wie extra dafür konstruiert unauffällig etwas zu verdecken ohne es zu blockieren. Schwach beleuchtet, ein leerer Raum. Niemand schien hier zu sein. Also hievte ich meinen Körper nach oben und verschloss den Zugang wieder leise.
Jetzt erst erkannte ich, wo ich war. Ich war schon einmal hier gewesen. Mehrere Male. Mein Herz blieb mir stehen. Ich hatte nicht erwartet sobald wieder hier zu stehen. Der Staub der Bücher vermischte sich mit meinem eigenen und ich erlaubte mir nicht einen Blick auf die Papiere zu werfen. Mein letzter Hinweis lag nicht mehr hier. Ich sollte verschwinden. Und dennoch ließ mich das Gefühl nicht mehr los, etwas vergessen zu haben in diesem kleinen Raum. Als hätte ich einen Teil meiner Selbst verloren als ich hinaustrat und die Bücherwand sich hinter mir schloss.
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MIRA
FantasyEine Krankheit breitet sich in Alliera aus und bringt Mira dazu aus ihrer Heimatstadt Fiadah zu fliehen und sich auf den Weg in die Hauptstadt zu machen. Als sie endlich wieder Arbeit findet, führen viele seltsame Umstände zu einer Bekanntschaft, mi...