Kapitel 32: Liane

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Mein Körper bebte als ich vor Lianes Zimmer ankam und keine Wachen davor standen. „Liane?", fragte ich leise als ich in dem leeren Raum stand. „Liane, bist du hier?" Echte Angst kroch in mir hoch. Was hatte ich getan? „Liane!" Die Sorge wurde von Hysterie abgelöst. Natürlich konnte sie in einem geheimen Versteck sein, in einem besonders abgesicherten Raum, aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass das nicht der Fall war. Also lief ich wieder durch die Flure, auf der Suche nach ihr. Einem Teil von mir war es egal, falls ich jetzt irgendwelchen radikalen Gegnern der Königsfamilie in die Arme lief, ich hatte nichts Besseres verdient. Doch außer ein paar Wachen, die mir entgegen kamen, hatte sich bereits alle in Sicherheit gebracht und die Angreifer waren längst verschwunden. Natürlich. Zark wusste wie man kämpfte, wie man unberechenbar war und wann der Überraschungseffekt vergangen war. Vor Ilans Tür standen mehrere Wachen, sodass ich mich augenblicklich fragte, warum vor Lianes Zimmer anscheinend nicht genug gewesen waren. Warum war niemand da gewesen, der dieses kleine unschuldige Wesen gerettet hatte?

Ich hatte ihr so viele Geschichten vorgelesen, wir hatten in ihrem Puppenhaus lustige Geschichten von normalen Mädchen nachgespielt, die in eine richtige Schule gingen und richtige Freunde hatten. Liane war immer ein wenig einsam gewesen und ich hatte versucht ihr die bestmögliche Freundin zu sein. Wir haben auf dem Boden gelegen und bunte Bilder gemalt, mit ihren Spielzeugen gespielt, sie hatte von mir gelernt ihren Namen zu schreiben und irgendwann hatte sie aus dem nichts heraus begonnen mich Mira zu nennen. Nicht du, nicht Freundin, nichtAmira, sondern Mira. Sie war die einzige die mich so hatte nennen dürfen. Fast wie damals zuhause, mit meiner Schwester. Einmal hatte ich mich wirklich dabei ertappt mir vorzustellen, wir wären Geschwister, was natürlich Unsinn war, aber das Mädchen, das von allen Seiten als Prinzessin behandelt wurde, begann mit mir zu lachen und Spaß zu haben – und ich genauso. Deshalb hätte es mich nicht überraschen sollen als ich eines Tages aus dem Nichts heraus begann zu singen. Leise und vorsichtig so wie früher mit meiner Schwester. Und Liane hörte zu.

Ich flocht ihre langen blonden Haare zu Zöpfen und manchmal stylte ich sie auch zu ganz anderen lustigen Frisuren und sie machte mir dann ganz viele kleine Zöpfe, die schief von meinem Kopf abstanden. Jeder, außer vielleicht Ilan und Ivana, die selbst kaum Zeit hatten nach ihrer Schwester zu sehen und deshalb regelmäßig mich vorschickten, behandelte sie mit Respekt als die, die sie mal werden würde, nie aber als das kleine Mädchen, das sie war. Einmal war sie sogar alleine durch den Palast spaziert, um mich bei Ivana abzuholen. Ihre Schwester war natürlich ausgeflippt, dass keine der Wachen mit ihr mitgekommen waren, von da an, suchte sie mich nicht mehr, aber manchmal kam tatsächlich eine Wache vorbei, die dann bei Ivana nach mir fragte, da ich mich die meiste Zeit, die ich nicht bei Liane war, bei ihr aufhielt. Seit jenem Tag, an dem sie mich suchen gegangen war, allerdings liebte ich sie, da war ich mir sicher und wenn sie mich Mira nannte, dann zuckte ich nicht mehr zusammen, sondern lächelte nur. Wahrscheinlich hatte mich der Prinz deshalb neulich so angesprochen. Es macht etwas mit mir, dieser Name.

„Ist er da drin?", fragte ich einen der Wachen, doch sein Blick blieb starr. „Wir werden niemanden hineinlassen." „Bitte", flehte ich ihn an, „ich muss zu ihm, sofort." „Bitte, Miss, suchen sie sich einen der sicheren Plätze in den Bereichen der Angestellten, niemand wird sie feuern, wenn sie erst morgen wieder zur Arbeit erscheinen, der Palast ist noch nicht abgesichert", mischte sich ein anderer ein. Der, mit dem ich zu erst gesprochen hatte, warf dem zweiten einen strengen Blick zu. Wahrscheinlich hatte er seinem Übergeordneten nicht das Wort nehmen dürfen. „Es ist aber wichtig, es geht um die Prinzessin, sie ist-" „Seien sie versichert, dass sich jemand um sie gekümmert haben wird. Der Prinz ist in Gefahr, wenn wir einen Fremden zu ihm lassen und wir sind hier, um ihn bestmöglich zu schützen, also, wenn sie jetzt gehen würden...? Verhalten sie sich leise und vorsichtig." „Ich bin keine Fremde." Wenn ich nicht zu ihm durchkam, dann würde Liane vielleicht... Die Wachen waren fertig mit diskutieren. Ich war doch nicht aus Zarks Fängen entkommen, um jetzt vor einer verschlossenen Tür zu stehen. „Ilan!", rief ich stattdessen. Dann noch einmal, lauter. Die genervten Wachen stürzten sich daraufhin auf mich. „Ilan, bitte!" Dann konnte ich nichts mehr sagen als mir einer ein Stück Stoff in den Mund gepresst wurde und ich zu Boden ging.

Mein Herz schlug verzweifelt dagegen an und ich hoffte nur, dass er mich gehört hatte, er musst einfach-

„Lasst sie los." Augenblicklich brachten die Männer Abstand zwischen sich und mich. „Majestät, wir haben den Befehl, ihre Sicherheit zu wahren", schaltete sich sofort der Leitende des Trupps ein. „Warum schickt einer der obersten Kommandanten meines Hofs eine unbewaffnete Frau durch den halben Palast um in Sicherheit zu gelangen?", fragt er stattdessen wutentbrannt. Der Mann stand kerzengerade, dann trat er mit einer kurzen Verbeugung zur Seite, sodass nun niemand mehr zwischen mir und dem Prinzen stand. Für ihn gab eine Diskussion, Befehl war Befehl und er nahm diese Erniedrigung hin, obwohl es einer der anderen gewesen war, der mit nahe gelegt hatte, mich in Sicherheit zu bringen. Der Mann hielt den Blick gesenkt.

„Prinz Ilan", kam es dann über meine Lippen, ich machte einen kurzen Knicks, wischte ungeschickt mit meinem Ärmel über mein tränennasses Gesicht, dass mir erst jetzt so richtig auffiel „es geht um Eure Schwester." Jetzt wurde sein Gesicht ganz bleich. Anscheinend hatte er von drinnen nicht alles mitgehört. „Was ist mit ihr?", fragte er langsam als befürchtete er das Schlimmste. Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzten, da war mein Hals wie zugeschnürt und ein Schluchzen rang sich durch meine Kehle. Welche Eingebung auch immer es war, aber Ilan konnte anscheinend keine Sekunde länger warten. „Kontrolliert alle Sicherheitsräume und Verstecke, außerdem brauche ich Auskunft über alle Verletzten." Dann nahm er meine Hand und wir rannten los. „Wann hast du sie das letzte Mal gesehen? Und wo?", keucht er. Aber kein Wort kam über meine Lippen. „Mira", fuhr er mich an. Wir blieben kurz stehen, ich rang nach Luft, während immer neue Tränen mir über mein Gesicht liefen. „Es tut mir so leid, es tut mir so leid, es tut mir so leid", kam es immer wieder aus mir raus. Ich hätte bei Liane sein sollen als es passierte, hätte zuerst bei ihr vorbei sehen sollen, ob es ihr gut ging, ob genügend Wachen bei ihr waren. „Ich war gerade auf dem Weg zu ihr", begann ich dann. „Du warst den ganzen Tag noch nicht bei ihr? Verdammt, was treibst du denn hier?", fuhr er mich an, sodass ich instinktiv einen Schritt zurückwich. „Ivana war krank", rief ich dann. Ich konnte nicht mehr klar denken, alles in mir wurde von Schuldgefühlen überflutet, während ich versuchte meinen Verstand bei mir zu behalten um Liane zu finden, vielleicht war sie ja weggelaufen oder jemand hatte sie bei sich versteckt. „Sie war krank?" Der Prinz starrte mich an. „Warum hast du mir verdammt nochmal nichts gesagt?" Dieser Streit sollte nicht hier stattfinden. Nicht zwischen uns, nicht jetzt, wo wir doch zu Liane mussten. „Sie wollte es nicht." Auf seiner Stirn bildete sich eine Falte, wahrscheinlich erinnerte er sich an den Streit mit ihr. „Und da lässt du sei einfach allein?", warf er mir vor. „Was?" „Du erzählst niemandem, das Ivana krank ist und dann schaust du den ganzen Tag nicht einmal vorbei?" Sein Ton war entnervt, abfällig, enttäuscht und vor allem verletzend, aber ich schaffte es nicht, seine Worte zu verstehen, sie prallten bei mir ab. „Oh mein Gott, ich war den gesamten Morgen bei ihr!", schrie ich jetzt zurück. Warum verstand er das nicht? „Eben hast du noch gesagt, du warst erst auf dem Weg zu ihr!" „Auf dem Weg zu Liane!"

Stille. Kreischende Stille herrschte für eine Sekunde zwischen uns, dann für zwei. „Scheiße", entfuhr es dann Ilan, „Ivana geht es gut?", fragte er wie um sicher zu gehen. „Ja." Soweit man das so nennen konnte. „Liane-" „-ist verschwunden", beendete ich seinen Satz und da wurde mir klar, dass er die ganze Zeit gedacht hatte, ich redete von seiner anderen Schwester. Also rannten wir wieder.

Ihr Zimmer war nach wie vor leer und als der Alarm endlich aussetzte fanden wir eine Gruppe von Wachen um den Schreibtisch gescharrt, der in der ersten Etage in einem Büro stand, wo Meldungen über die sich in Sicherheit befindenden Menschen gemacht wurden. Die Gespräche erstarrten abrupt als der Prinz von Alliera durch den Raum schritt und einen Blick auf den Zettel warf. Normalerweise sind Mitglieder der königlichen Familie immer durch eigene Wachen geschützt, sodass über sie keine Meldungen gemacht werden müssen, doch anscheinend, waren die Wachen vor Lianes Zimmer nirgendwo zu finden.

Was dann folgte, gehörte zu den schlimmsten acht Wörtern, die ich je gehört hatte.

„Miss, setzen Sie Liane Levis auf die Vermisstenliste."

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