Nie war ich glücklicher gewesen. Für einen Moment war ich kurz davor der Fremden um den Hals zu fallen. Wie sich herausstelle war sie das andere Mädchen, das sich mit mir ein Zimmer teilte und ich hatte direkt davor gestanden. Ihr Name war Sophie. Als ich ihr erzählte, dass Amber mir den Palast gezeigt hatte und dann aber abgelenkt wurde und ich den Weg nicht mehr gefunden hatte begann sie über sie zu schimpfen. Sie erklärte mir, dass sie selbst zwei Monate gebraucht hatte um sich halbwegs zurecht zu finden und es sei eine Zumutung mich am ersten Tag allein stehen zu lassen. Sophie schien nett. Sie war kleiner als ich und auch jünger. Ich fragte mich wie lange sie schon hier arbeitete, aber ich traute mich nicht sie anzusprechen. Im Moment war ich einfach froh wieder hier zu sein. Nach einer halben Stunde kam Amber wieder und wir folgten ihr um für den nächsten Morgen Tischdecken, Servierten und Blumenvasen vorzubereiten. Mir wurde gezeigt wie ich falten musste, wer was mochte und wo deshalb was wie arrangiert werden musste. Nervös versuchte ich mir alles zu merken. Anfangs blickte mir Sophie noch über die Schulter und gab mir im Flüsterton hinweise was zu tun war. Doch dann nahm Amber sie beiseite und die beiden begannen zu tuscheln, was mir nicht half entspannter zu werden. Gerne hätte ich gewusst, was da zu bereden war, doch ich hatte das Gefühl, mich lieber nicht einmischen zu sollen, also unterließ ich es.
Am Abend war Sophie still. Ihre Miene wirkte ernst und auch ein wenig traurig, wenn sie zu Amber herüber blickte. Mit mir hatte keiner mehr geredet und so lagen wir in unseren Betten als mir auffiel, dass meine alte Kleidung tatsächlich weggeräumt worden war. Ich hing eine Weile meinen Gedanken hinterher. Dachte an den vergangen Tag, ohne an einem Geschehnis hängen zu bleiben. Irgendwann knipste Sophie das Licht aus. „Gute Nacht." „Gute Nacht", flüsterte ich.
Es heißt, dass das Gefühl, das man nach der ersten Nacht im neuen Heim hat, nie ganz verschwinden wird solange man dort weilt. Als ich aufwachte war noch immer Nacht. Doch jemand war wach. Ich sah wie sich unsere Tür langsam und leise öffnete. Dann schlüpfte Amber hinaus und ich bildete mir ein auf ihrem Gesicht leichte Tränen schimmern gesehen zu haben.
Am nächsten Morgen wurde ich von Amber geweckt. Zeit die Prinzessin zu treffen. Mein Herz rutschte mir bei dieser Ankündigung automatisch in die Hose. Sophie war schon auf den Beinen. Also raffte ich mich auf und zog mir meine Kleider an.
Ich sprach kein Wort mit Amber über die letzte Nacht oder dass ich gestern den Weg nicht gefunden hatte. Irgendetwas war vorgefallen, ganz bestimmt. Deshalb sammelte ich meinen Mut und fragte stattdessen etwas anderes, was mich nicht losließ. „Amber?" „Hm?" „Sag mal, warum werde ich als Zofe vorbereitet und nicht du?" Wir arbeiteten still weiter Seite an Seite. „Alle hören auf dich und du weißt über alles bescheid", fahre ich fort. „Die Prinzessin", beginnt sie und ich höre aus ihrer Stimme, dass sie nicht gerne so betitelt, „würde mich nach einem Tag rausschmeißen. Das weiß ich. Ich kann sie nicht ausstehen und sie kann es nicht ausstehen, wenn Leute sie nicht mögen, deshalb... ist es so für alle Beteiligten das Beste." Damit war das Thema für sie wohl beendet. „Heute ist dein großer Tag", sagte sie nach einer Weile, „du musst jetzt los, ihre Hoheit braucht ihre Zofe."
Amber brachte mich zu ihrem Gemach. Sie hatte mir erklärt, was zu tun war: aufwecken, Höflichkeit, ihr ein Kleid heraus suchen, Tee anbieten, ein Bad einlassen, je nachdem wonach sie verlangte. „Vergiss nicht den Knicks und die formelle Ansprache. Wenn ihr etwas nicht gefällt, dann entschuldige dich und nimm dich zurück. Mache ihr Vorschläge, aber nicht so, dass du ihr die Entscheidungen abnimmst, es sei denn sie will es." Das klang alles ziemlich verwirrend. „Du schaffst das schon", sagte sie und drückte mir zum Abschied die Hand, "viel Glück."
Der Morgen war noch früh, aber anscheinend stand eine wichtige Versammlung statt an der die Prinzessin teilnehmen sollte. Normalerweise fanden solche Treffen nur in kleinen Runden statt und die Prinzessin wurde nicht verpflichtet zu erscheinen, doch heute sollte sie wohl mit ihrer Anwesenheit die Familie unterstützen. Der König, die Königin und der Kronprinz waren geladen, nur die jüngere Prinzessin Liane nicht, sie war erst fünf und grundsätzlich noch von solchen Terminen ausgeschlossen. Prinzessin Ivana war 17, wie ich, und sie schlief als ich ihr Gemach betrat. Ohne Frage war sie schön wie sie dort in ihrem großen Bett lag und seelenruhig träumte. Vorsichtig räusperte ich mich. „Prinzessin Ivana, es ist Zeit aufzustehen." Von ihr kam nur ein genervtes Stöhnen. Also ging ich einmal quer durch den Raum und zog die Vorhänge auf. Erste Sonnenstrahlen schienen in das Zimmer. Ich öffnete die Fenster und ein leichter Wind brachte die Stoffbahnen zum Schweben. „Ist es nicht ein wunderschöner Tag?", fragte ich gedankenverloren. Jetzt hob sie doch ihren Kopf und betrachtete mich mit finsterem Blick. „Bist du die neue Zofe?", fragte sie schlecht gelaunt. „Ja, Eure Hoheit", sprach ich, machte einen Knicks und lächelte sie freudig an. Ich gab mir alle Mühe und musste mich nicht einmal verstellen. Es half mir, einfach freundlich zu sein, wenn da nicht diese müde Prinzessin wäre, die das wohl nicht ansatzweise wahrnahm. „Dann schließ die Fenster endlich wieder und bereite schon mal das Ankleidezimmer vor", kommandierte sie mich herum, was mein Lächeln ein wenig ins Wanken brachte. „Sehr gern, Eure Hoheit", sprach ich, schloss die Fenster und verschwand aus dem Zimmer. Mit so einer Ignoranz hatte ich bisher nicht gerechnet, aber womöglich war sie nur wegen der Frühe so schlecht gelaunt, das konnte ich niemandem verübeln, vor allem nicht der Prinzessin. Ich suchte ein dunkelblaues Kleid heraus, mit einem hauchzarten Blumenmuster. Es wirkte schlicht und dennoch elegant.
Als die Prinzessin in den Ankleideraum kam, blickte sie von mir zu dem Kleid. „Willst du mich noch blasser aussehen lassen?" „Nein, Eure Hoheit", sprach ich schnell ängstlich. „Ich dachte-" „Es interessiert mich nicht, was du denkst, suche etwas rosigeres, sofort!" „Ja, Eure Hoheit." Ich verbeugte mich tief und suchte nach einem weiteren Kleid aus der riesengroßen Auswahl der Prinzessin. Ich wurde fündig und kam zurück geeilt mit einem kürzeren Kleid in Rosé, das mit Tüll eine schöne Figur machte. Sie betrachtete das Kleid und ich hielt die Luft an. Langsam nickte sie: „Immerhin scheinst du nicht ganz ohne Geschmack zu sein." Erleichtert atmete ich auf, ohne es sosehr zu zeigen. Das war das erste Kompliment, das sie mir gemacht hatte. Ich half ihr in das Kleid und schnürte den Rücken zu einem echten Mädchentraum. Danach kam eine weitere Bedienstete, die sich um ihr Gesicht und ihre Haare kümmerte. In der Zeit öffnete ich doch noch einmal die Fenster, wischte ein wenig Staub und füllte die Wasservorräte sowie die Gläser und Tassen, die sich in ihrem Zimmer befanden auf. Gerade rechtzeitig bevor sie aus ihrem Badezimmer trat, ihre Haare nach hinten warf und nachdem ein Diener ihr die Tür aufhielt hinaus stolzierte, nicht ohne mir noch einen warnenden Blick wegen der Fenster zuzuwerfen.
Der restliche Tag lief ereignislos ab, ich hatte der Prinzessin ihre Wünsche auf die schnellstmögliche Art erfüllt und war ohne größere Tadel ihrerseits davon gekommen. Völlig fertig fiel ich am Abend in mein Bett. Jetzt hätte ich gern jemanden bei mir gehabt, der sich nach mir erkundigt, doch weder Amber noch Sophie waren hier. Für heute war nichts mehr zu tun, aber ich war zu aufgedreht um einfach zu schlafen, also trat ich noch einmal raus auf den Flur. Amber hatte mir einige Räume gezeigt und ich dachte, ich würde mal in Richtung großer Saal gehen und mir bei der Gelegenheit gleich den Weg besser einprägen.
Die Gänge waren allesamt verlassen. Vielleicht waren meine Mitbewohnerinnen auf einer geschlossenen Veranstaltung eingeteilt, die sie mir noch nicht zutrauten. Auf dem Weg fiel mir plötzlich eine Tür auf, von der ich glaubte, dahinter liege der Vorbereitungsraum für Planungen der Feste, doch als ich die Tür aufstieß, roch ich den unverkennbaren Geruch von Büchern. In der Dunkelheit fand ich eine kleine Kerze in einem Glas, die ich mit einem Streichholz entzündete. Ich wusste, ich sollte nicht hier sein, doch ein innerer Instinkt trieb mich immer weiter voran. Vor mir lag die Palastbibliothek. Hohe Reihen voll mit Büchern. Staunend ging ich hindurch, lass Titel von Geschichten, die ich noch nie gehört hatte. Am Ende einer Reihe blieb mein Blick an einem Buchtitel hängen. Die Märchen der alten Welt. Ohne zu zögern bewegte sich meine Hand darauf zu, vorsichtig glitten meine Finger über den Buchrücken. Meine Mutter hatte mir daraus vorgelesen als ich klein war, doch da hatte ich die Geschichten noch nicht verstanden. Später dann habe ich sie selbst gelesen, doch in meinem Kopf höre ich dabei immer die Stimme meiner Mutter. Ich zog das Buch aus dem Regal und hörte ein leises Klicken neben mir. Normalerweise hätte ich mir nichts dabei gedacht, doch ich musste mich hüten, es war verboten für mich hier zu sein, das wusste ich. Ich näherte mich der Stelle, von der das Geräusch ausgegangen war, dann sah ich ihn. Einen kleinen Spalt in der Wand. Ungläubig zwang ich meine Finger dazwischen und schob die Tür ein Stück weiter auf. Was dahinter lag war unglaublich schön.
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MIRA
FantasyEine Krankheit breitet sich in Alliera aus und bringt Mira dazu aus ihrer Heimatstadt Fiadah zu fliehen und sich auf den Weg in die Hauptstadt zu machen. Als sie endlich wieder Arbeit findet, führen viele seltsame Umstände zu einer Bekanntschaft, mi...