Kapitel 9: Die Hauptstadt

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Am nächsten Tag orientierte ich mich am Weg ohne ihm je zu Nahe zu kommen und am Abend erreichte ich endlich mein Ziel. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich sie, die Hauptstadt Allieras: Nordtor. Eine große Stadtmauer umgab die Festung, die Gebäude wirkten alt und waren viel größer als die Fiadahs, das Leben hier hatte nicht abgebrochen, denn ich konnte sehen, wie Menschenströme über die Wiege auf den Berg und zurück fielen. Ich habe gelernt, dass ein großer Teil der Stadt auf dem Berg lag, der große Markt, wo verkauft wurde, die Häuser der Adligen und – natürlich – der Palast der königlichen Familie. Selbst Kilometer entfernt konnte ich ihn sehen mit seinen Türmen und Bögen, so triumphierend und überheblich, dass das davor nur wie eine kleine Bemühung am Rande gegen diese pompösen Bauten wirkte.

Ich hatte zwar Zeit gehabt zum Nachdenken, doch jetzt war ich stetig auf der Hut und einen Plan hatte ich noch nicht. Niemals würden sie mich einfach so hinein lassen, dafür war das Risiko zu hoch, die gesamte Stadt zu infizieren.

Die Sonne sendete nur noch für wenige Stunden ihr Licht, wenn ich nicht bald einen Weg hinein finden würde, der nicht über offizielle Eingänge ging, dann musste ich eine weitere Nacht draußen verbringen und es morgen versuchen. Doch dann sah ich meine Chance kommen und sie war so offensichtlich, dass ich sie nicht hätte nicht sehen können. Auf der Apfelplantage wurden gerade die letzten Runden gedreht. Geschickt holte ich die zweite Jacke, die ich sonst nur zum Schlafen überzog aus meiner Tasche und faltete sie als Schürze. Meine Haare band ich hoch. Ich wusste nicht ob es realistisch aussah, aber ich konnte nur hoffen, dass es für den ersten Augenblick glaubhaft wirkte.

Ich entschuldigte mich wiederholte Male im Geiste bei der Frau, die ihren Karren vor dem Zaun stehen ließ um noch einen weiteren zu holen. In der Zeit gelang es mir ihn gekonnt und so lautlos wie möglich weg zu transportieren ohne dass sie etwas merkte. Hier draußen waren viele verschiedene Plantagen, keiner würde etwas Ungewöhnliches bemerken. Das Schild riss ich ab, so würde mich ebenfalls niemand des Diebstahls anschuldigen können.

Die Angst steckte tief in mir als ich mich einreihte bei der Warenkontrolle an einem kleineren Seitentor für Verkäufer. Nur nichts anmerken lassen, dachte ich. Die Leute vor mir zeigten alle ihre Papiere und wurden ohne Probleme durchgelassen. Ich hatte keine Unterlagen mit denen ich mich hätte ausweisen können. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

„Guten Tag", begrüßte ich den Mann, der mich nur störrisch zu sich winkte. Ich war die letzte, er wollte Dienstschluss. „Papiere!", forderte er mich auf. Mein ganzer Körper zitterte. Ruhig bleiben, zwang ich mich. „Ich arbeite für eine Apfelplantage der Stadt, doch habe meine Papiere heute Morgen zu Hause vergessen", sprach ich meine gut zurecht gelegten Worte. Der Mann musterte mich. Wenn er mich gegen Zulassung rein ließ könnte er seine bestimmt gut bezahlte Arbeit verlieren, wenn nicht, dann hätte ein junges Mädchen vor der Stadtmauer gelassen. „Bei welcher Plantage arbeitest du? Zufällig kenne ich mich da ein wenig aus." Ich wusste nicht, ob er sich wirklich auskannte, doch seine Miene verriet nichts. Ich steckte gewaltig in der Klemme. „Kennen sie die große Pflaumenbäume kurz vorm Wald, davor ist meine Plantage. In dem Teil wo ich arbeite pflücken wir nur Äpfel. Ich arbeite noch nicht sehr lange da. Wenn ich die Lieferung nicht pünktlich abgebe, verliere ich die Stelle sofort wieder." Ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme, die ich gar nicht so sehr spielen musste und ich wusste, dass er sie auch hörte. Ich hatte tatsächlich die Plantage beschrieben, von der ich die Äpfel hatte, mehr blieb mir ja auch nicht übrig. „So so", gab der Mann von sich, „aber wie heißt die Plantage?" Ich überlegte stark, doch dann viel mir plötzlich die Aufschrift, die ich abgerissen hatte wieder ein. Er nickte nur, als ich ihm den Namen nannte. „Jetzt mach schon, dass du durch kommst. Und verrate das bloß keinem, ein zweites Mal mach ich das nicht mit und jetzt geh und liefere deine Äpfel ab."

Ich dankte dem Mann, doch im Kopf tat ich es noch viel mehr. Ich hatte es geschafft, ich war in der Stadt.

Die Hauptstadt hatte breite Straßen, hohe Häuser und große Märkte. Überall liefen Menschen, selbst zu dieser Uhrzeit. Die meisten waren vermutlich schon auf dem Rückweg von der Arbeit. Ich sah Frauen, die versuchten ihre letzte Ware für einen vergünstigten Preis loszuwerden, Männer in Uniformen, Kinder, die durch die Gassen huschten. Niemand beachtete mich, niemand bemerkte mich. Ich aber bemerkte alle kleinen Details, die ich über die vergangenen Monate so sehr vermisst hatte ohne zu wissen, dass sie es waren, die mich traurig gemacht hatten. Hier war es, das Leben. Und ich stand mittendrin.

In Fiadah gab es kein lautes Stimmengewirr, keine lachenden Freunde, keine Mägde, die sich am Ende des Tages über das Wetter und die gutaussehenden Soldaten unterhielten. Ein Schatten schob sich über meinem Augenlicht, der mit der gesehenen Lebensfreude einherging. Meine Heimat war auch einmal so gewesen, jetzt presste der Tod jeden Tropfen Leben aus dem immer kleiner werdenden Kreis. Wenn ich jemals zurückkehren würde, wäre da nichts mehr, das mir Halt geben könnte. Ich musste fliehen, ich musste weg. Doch jetzt war ich hier und genauso allein in Mitten von tausenden Menschen.

Eine Träne lief langsam über mein Gesicht, doch ich wischte sie weg bevor sie auf den Boden schlug, bevor sie jemand zu Gesicht bekam und vor allem bevor ich den Teil von mir, der darin versteckt lag, erkannte.

Ich richtete meinen Blick gen Himmel und sah die Wolkenwand, die sich über die Stadt zu ziehen schien. „Kommt, jetzt, wir sollten zurück bevor der Regen anbricht", hörte ich eine Stimme, auf die sich meine Aufmerksamkeit richtete. Nicht, weil sie mir bekannt vorkam, sie weckte mich einfach aus meiner Starre und ich blinzelte ein paar Mal, bevor ich meine Chance ergriff.

Den Karren mit Äpfeln hatte ich vor einer Weile unauffällig zu einem Stand gebracht an dem ich das mir von der Plantage bekannte Etikett erkannt hatte. Ich war zwar nicht ohne Schuld, aber ich war ein ehrlicher Mensch. Heute hätte mir eine ganze Wagenladung Äpfel auch nicht mehr gebracht, also hatte ich sie abgegeben. Natürlich nicht ohne mir vorher drei, einen in jede Tasche und den dritten in die Hand, genommen zu haben. Doch dieser war bereits verspeist und die andere beide wollte ich nicht jetzt schon aufbrauchen. Ich hatte also nichts als mich selbst, meine Kleidung und zwei Äpfel. Was hatte ich schon zu verlieren?

Also folgte ich den Mägden, mit ihren weißen Schürzen durch die Straßen Nordtors. Aufmerksam versuchte ich mir Wege und Abzweigungen einzuprägen. Nach einer Weile trennten wir uns allerdings von den belebten Straßen und gingen stattdessen durch einsame, schmalere Gänge. Ich bekam Einblicke hinter verschlossene Türen und niemand bemerkte mich. Angst schlich sich mehrmals von hinten an, während wir minutenlang durch einen Tunnel gingen, der nur durch Bekanntschaften und einen Schlüssel zu betreten war. Aber ich musste hoffen, irgendwo einen Anschluss zu finden. Sonst würde ich nicht lange durchhalten.

Meine Wünsche wurden erfüllt, mehr als das. Alle meine kühnsten Träume wurden erhört. Auch wenn ich nicht damit gerechnet hätte. Mir blieb die Luft weg. Denn als ich wieder Licht erblickte, befanden wir uns auf dem direkten Weg zum Palast der Königsfamilie.

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