Kapitel 61: Das Messer

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Als ich am Abend in mein Zelt schlüpfte hatte ich die Hand schon an der Hüfte auf dem Messer liegen, das ich seit einigen Tagen bei mir trug, bevor ich realisierte, wer da vor mir lag. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder während ich ihn schlafend beobachtete. Eine seiner Haarsträhnen hing ihm im Gesicht und flatterte bei jedem Atemzug leicht. Ich ließ die Ruhe um uns einkehren, vergaß meine schmerzenden Knochen, meine schwere Kleidung, ja sogar meinen Atem. Ich schloss nur meine Augen und lauschte der Stille, die uns umschloss, nur uns zwei. Ein Moment ohne Gedanken, Ängste und Zweifel. Nur zwei Menschen in einem Zelt, beieinander ohne Zumutungen, Bindungen oder Versprechen. Dann zog ich meine Stiefel aus, legte die Jacke ab und das Messer neben das Bett. Jeremy lag auf dem Boden und mein Herz verzieh ihm bereits für seine Angst, seine Vorwürfe und ein bisschen auch für seine Eifersucht. Morgen würde ich mit ihm darüber sprechen, dass er das Bett brauchte. Er musste sich immer noch erholen und ich würde früh aufstehen. Aber jetzt ließ ich ihn schlafen, mit dem Blick Richtung Zelteingang. Wie in der ersten Nacht hier. Um mich zu schützen. Morgen, morgen würden wir reden, sagte ich mir. In der Dunkelheit stieg ich in das Bett, breitete die Decke über mir aus und küsste den Jungen vor mir sanft auf die Stirn, dann zog ich meine Beine an und drehte mich auf den Rücken. Über mir konnte ich im spärlichen Licht die Falten des Stoffes ausmachen, viel mehr war nicht zu erkennen. Ich drehte mich zu ihm und hörte auf sein gleichmäßiges Atmen bis mein eigenes sich seinem angepasst hatte. Ein winziges Lächeln schlich sich in mein Herz während ich in einen warmen, erholsamen Schlaf rutschte.

Wie an so vielen Morgen erwachte ich bereits von der Kälte, die sich in der Nacht trotz der warmen Decken über mir bis zu meiner Haut durchgeschlichen hatte. Ich bewegte meine eiskalten Zehen ein wenig, streckte meine Arme und Beine kurz aus, nur um sie dann wieder anzuziehen, die Augen aufzuschlagen und mich aufzusetzen. Der Tag war angebrochen, die Dämmerung drang schon in unser Zelt, erstes Licht. Mein Blick fiel auf den Jungen, der immer noch schlafend auf dem Boden lag, seine Haare nun völlig durcheinander. Vorsichtig stieg ich über ihn hinweg und beeilte mich meine vor Kälte steife Kleidung anzuziehen. Fröstelnd verließ ich das Zelt und machte mich mit großen, zielstrebigen Schritten auf zum Trainieren. Das Messer, was ich bereits angelegt hatte, wippte an meiner Hüfte, während ich nachsah, ob Will bereits wach war. Erstaunt zog ich eine Augenbraue hoch als ich ihn tatsächlich an unserem Übungsplatz traf. Sein Gesichtsausdruck war düster, so als hätte er lange auf mich warten müssen. Bevor wir ein Wort austauschen konnten hatte er mir schon den Griff meines Schwertes entgegengestreckt. Ich sah ihn kurz an. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Vielleicht hatte er schlecht geschlafen. Dann zog ich es aus der Scheide. Will legte diese ab und zog sein eigenes Schwert. Während er wieder auf mich zu kam betrachtete ich ihn. Gestern hatte ich ihn vor Jeremy als Freund bezeichnet. Waren wir das? Will war anders als die meisten, aber ich fühlte mich ihm gegenüber nicht fremd. Wir bewegten uns umeinander herum, keiner blinzelte, wir waren hoch konzentriert. Aber ich sah, dass ihn etwas beschäftigte. Das war mein Vorteil. Ein entscheidender Vorteil wie es schien. Sein Arm hing etwas durch, seine Augenlider waren schwer, aber sein Wille ungebrochen. Ich hatte gelernt nie den ersten Schlag zu tun, wenn ich mir dadurch keine lohnenswerte Veränderung erhoffte. Normalerweise begann er den Schlagabtausch, doch heute war etwas anders. Ich tat einen schnellen Schritt in die linke Richtung und ließ mein Schwert auf ihn zu sausen, er parierte, doch ich hatte mich schon mit leichten Füßen weiter um ihn herum bewegt, wo ich nun seine ungeschützte Seite angriff. Will fuhr herum, wehrte den Schlag gerade noch rechtzeitig ab, aber kam aus dem Gleichgewicht. Das nutze ich aus, schlug ihm das Schwert aus der Hand, trat es mit dem Fuß aus seiner Reichweite und warf mich auf ihn, sodass er rückwärts auf dem Boden landete. Bevor er mich abschütteln konnte war mein Schwert schon auf seinen Hals gerichtet, während ich seine Arme mit einem besonderen Griff, den ich von ihm gelernt hatte, festhielt und somit für einen weiteren Angriff unfähig machte. Wir atmeten beide schwer und ich verharrte noch einen Augenblick in der Position - bis er lächelte. Auch ich musste lächeln und kroch von ihm runter. „Du hast einen guten Tag", keuchte er als er sich aufsetze. „Oder du einen schlechten." Der Blick, den er mir zuwarf war tödlich. Ich hielt mich zurück noch mehr zu sagen, bevor er sich auf mich stürzte und mit seiner bloßen Armkraft erwürgen würde. Stattdessen rappelte ich mich auf und reichte ihm wieder sein Schwert. Eine untypische Geste, normalerweise verlief es genau andersherum oder er ließ mich mein eigenes Schwert selber aufheben. Auch er schien das zu bemerken und quittierte unseren Rollentausch mit einem Schnaufen. Irgendetwas war passiert, was Will derart zu schaffen machte wie ich es noch nie zuvor bei ihm erlebt hatte. Noch nie hatte ich einen Kampf zwischen uns klar für mich entscheiden können. Vielleicht waren es unfaire Begebenheiten gewesen, die mir zu diesem Triumph verholfen hatten, aber dennoch reckte ich stolz das Kinn als er sein Schwert erneut auf Augenhöhe hob um seine erneute Kampfbereitschaft zu signalisieren. Ich hörte seine Stimme in meinem Ohr: Im Kampf gibt es keine Entschuldigungen. Alles war erlaubt. Und dass er nichts weiter dazu sagte, bedeutete, dass er meinen Sieg tatsächlich tolerierte und damit auch seine eigene Niederlage. Will, der Kämpfer, tolerierte eine Niederlage? Da sagte er plötzlich: „Ohne Gefühle wirst du viel gefährlicher" und ehe ich mich versah begann er den Kampf mit dem ersten Schlag.

Seine Energie war zurück, seine Aufmerksamkeit galt wieder dem Kampf und ich versuchte mich nicht von seinen Worten irritieren zu lassen, das hatten wir bereits geübt. Will war wieder der Alte, er kämpfte unermüdlich und nutze jede Schwachstelle meinerseits für den eigenen Vorteil. Als er das Schwert vor meiner ungeschützten rechten Schulter abbremste um mich nicht zu sehr zu verletzen waren wir beide bereits körperlich am Ende. „Sorg dafür, dass es so bleibt", riet er mir und ich war nicht sicher, ob er meine Kampftechnik meinte oder das, was er vor Beginn unseres Gefechts gesagt hatte. Ohne Gefühle wirst du viel gefährlicher.

Ich war froh nach dem Kampf wieder zu Luft zu kommen und meinen trockenen Mund mit Wasser auszuspülen. Wir trainierten den gesamten Vormittag wie eh und je, von Wills Launen am frühen Morgen war nichts mehr zu erkennen. Ich bemerkte, dass alle viel früher begannen das Essen vorzubereiten oder sich in kleinen Gruppen zu versammeln um neue Pläne abzuklären, bis mir klar wurde, dass nicht alle anderen früher dran waren als sonst, sondern ich nur später. Ich musste in dieser Nacht länger geschlafen haben als sonst und plötzlich ergab auch Wills Kommentar über meine Gefühle mehr Sinn. Ich war heute morgen nicht bei einem kranken, halb betäubten Jungen gewesen, bevor ich mich mit ihm duelliert hatte. Heute war er bei mir gewesen. Ich war weder ängstlich noch wütend gewesen, ich hatte nur kämpfen wollen und war so erholt wie seit Wochen nicht. Dennoch verlangte unser Training mir eine Menge ab, doch ich fühlte mich nicht länger wie eine Untergebene. Seit ich ihn besiegt hatte fühlte ich mich als stünde mir die Welt offen, als könne ich alles schaffen, wenn ich nur hart genug daran arbeitete.

Als Jeremy kam war es bereits früher Nachmittag. Wir hatten nach den Kampfübungen auch Streckenläufe gemacht, kurze Sprints, längere Wege, auf offenen Flächen, im Dickicht des Waldes. Ich war mal gerannt, mal geschlichen, immer mit dem Ziel unsichtbar zu werden oder mich an einen sicheren Ort zu bringen, der mich schützte, wenn ich es selbst nicht konnte. Will ließ seine Waffe sinken nachdem er mir gerade verschiedene Schlagabfolgen gezeigt hatte, die Soldaten erlernten und wie ich dagegen vorgehen konnte. „Hallo", gab Jeremy von sich und meine Nackenhaare stellten sich auf bei der unangenehmen Energie, die zwischen den beiden knisterte. Will ließ sein Schwert in die Scheide gleiten und bedachte mich mit einem Blick, von dem ich nicht sagen konnte, was genau er ausdrücken wollte. Dann sah er Jeremy abfällig an und ging ohne ein Wort. Ich drehte mich zu dem Jungen um, der bei Tageslicht zwar immer noch übel, aber dafür wieder lebendig aussah. „Das ist also euer Training", sagte er so bitter, dass ich mich fragte, ob er etwas gesehen hatte, was ich nicht sah. „Tut mir leid, dass ich euch unterbrechen musste, aber ihr ward so vertieft ineinander - und du wolltest doch darüber reden. Heute. An einem neuen Tag." „Was genau willst du damit sagen? Vertieft ineinander.Er bereitet mich auf echte Kämpfe vor." Jer atmete genervt aus. „Du weißt nicht wie er dich ansieht." „Er bringt mir das Kämpfen bei", erwiderte ich verärgert, „das ist alles." Jer schüttelte den Kopf. Seine Ignoranz machte mich wütend: „Jer, jetzt denk doch mal scharf nach. Will hat Fine, die beiden lieben einander. Er hilft mir, weil ich es nötig habe. Aus keinem anderen Grund." Jeremy lachte. „Du bist so naiv, Mira." „Nenn mich nicht so", rief ich aufgebracht. „Du bist ja blind vor Eifersucht. Will und ich verbindet nicht mehr als das Kämpfen miteinander. Versteh das doch. Ihr steht in keiner Konkurrenz zueinander." Jeremy schüttelte den Kopf. „Das sagst du jetzt noch." „Das sage ich jetzt, heute, morgen..." „Und ich dachte, du wärst anders." Mein Herz verkrampfte sich bei seinen Worten, bevor ich ihm dasselbe an den Kopf warf. „Ich dachte, duwärst anders!" „Mira", er kam zu mir, nahm meine Hand und sah mir ins Gesicht als er sagte: „Ich will nicht, dass du weiter mit ihm trainierst." Ich riss mich schockiert von ihm los. „Das kann nicht dein Ernst sein!" „Doch, es ist mein völliger Ernst", sagte er ruhig. „Nein", entgegnete ich. Er legte den Kopf schief. „Nein?" „Nein... nein, das mache ich nicht mit." Er blinzelte mich erstarrt an. „Dann willst du das hier beenden? Das zwischen uns, meine ich? Das hat keine Bedeutung mehr für dich?" Tränen standen in meinen Augen. „Das zwischen uns war immer etwas Besonderes." „Dann hör auf das, was ich dir sage-" „Nein." Ich schluckte schwer bevor die Worte mir über die Lippen kamen. „Ich liebe das, was zwischen uns ist, aber nicht dich, wenn du bist, wie du mich gerade behandelst. Das kann ich einfach nicht." Ich wich vor ihm zurück als er versuchte mir näher zu kommen. „Mira, warte, das..." „Nein, ist schon okay." „Was redest du da?" „Ist okay, Jeremy." Dann drehte ich mich um und lief, lief in den Wald.

Später fiel mir auf, dass mein Schwert noch immer am Übungsplatz gelehnt hatte. Sonst hatte Will es immer nach dem Training wieder mitgenommen, aber heute, ausgerechnet heute, hatte er es mir stehen lassen. Doch ich hatte es nicht zurück in die Scheide gesteckt und mitgenommen, nein, ich hatte es einfach dort zurückgelassen. Dafür hatte ich mein Messer bei mir, dessen Gewicht mir immer präsent war. Das Messer, das mich beschützte und mir zeigte, dass ich stark war, dass ich kämpfen konnte und dass ich kämpfen würde.

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