Mit den Tagen gewöhnte ich mich allmählich an diesen Ort. Ich teilte mir weiterhin mit Jeremy ein Zelt, obwohl die meisten anderen Frauen getrennt von den Männern schliefen. Es gab immer wieder neue Menschen, die ankamen und andere, die gingen. Trotzdem kannten sich die meisten beim Namen. Ich hatte viel zu lernen und schlief abends geschafft ein, nachdem ich tagsüber von Jeremy das Kämpfen lernte. Ich machte Fortschritte, aber nur sehr langsam. Früher oder später landete ich immer wieder in einer unterlegenen Lage. Er meinte zwar, dass das normal sei, aber dennoch frustrierte mich meine langsame Verbesserung. Ich hatte doch kein Ziel, also warum die Eile? Aber etwas in mir musste immer weiter vorankommen und mehr erreichen. Ich wusste nicht woher dieser Antrieb kam, aber er brachte mich dazu mich nicht zu beschweren und mich härter anzutreiben, wenn ich nachließ.
Ich erwischte mich dabei, wie ich immer wieder gespannt auf Nachrichten aus der Hauptstadt lauschte, aber nichts kam bei mir an. Es schien als hätte ich mein neues Leben bekommen - völlig abgeschottet von allem, was war. Und von allem, woran vielleicht doch noch ein Teil meines Herzes hing, mehr als ich mir eingestehen wollte. Doch wenn meine Gedanken zu dem kleinen Mädchen in ihrem Zimmer zurückkehrten, dem ich Märchen vorgelesen hatte, zu der Prinzessin, die ihren Tee mit Zitrone trank, den Rätseln mit einem Prinzen, der mich sah und nicht erkannte, der etwas verändern wollte, der gutwar... schlug ich umso härter mit dem Stock. Meistens erkannte Jeremy dann meine Wut und wusste sie auszunutzen, sodass ich mein Gleichgewicht verlor und auf dem Boden landete. Ich konnte mir diese Tagträume nicht leisten, nicht einen einzigen Gedanken daran, erst recht nicht, wenn ich jetzt mit den Menschen zusammen arbeitete, lebte und aß, die Anschläge auf diese Familie geplant hatten, die sie hassten und sie stoppen versuchten. Manchmal dachte ich, sie hatten ja nie Lianes Lachen gesehen, die stillen Worte des Prinzen gehört oder die Aufopferung der Prinzessin erlebt, aber genauso wenig hatten diese Kinder jemals unser Leben gelebt.
Ich ließ mir nicht anmerken wie begierig ich auf Neuigkeiten war. Sie sollten keine Quelle für ihren Hass auf mich haben, den Will ständig am schüren war. Ich war keine Verräterin, nicht auf diese Weise. Also zeigte ich mich kalt, uninteressiert und zurückhaltend. Dennoch hörte ich sie manchmal ihr Flüstern unterbrechen, wenn ich mich näherte. Sie redeten über mich. Es sollte mich nicht kümmern. Jeremy stand hinter mir. Nach allem. Mehr hatte ich mir wohl nie wünschen können.
Er hatte mich bisher kein zweites Mal geküsst, ich ihn genauso wenig. Im Augenblick lebten wir unseren Alltag und sprachen nicht darüber, was das zwischen uns war. Alle anderen sprachen dafür umso mehr darüber. Wir galten wahrscheinlich offiziell als Paar. Aber wenn mir das Fragen vom Hals hielt, war ich froh drum.
Für den Winter, der immer mehr Einzug hielt und die Blätter von den Bäumen holte, hatte ich eine mit Fell gefütterte Jacke erhalten. Sie war wirklich warm und ich war unbeschreiblich dafür dankbar gewesen als Fine sie mir zur Entschuldigung überreicht hatte. Sie war so verschieden von Will. Ihrem Mann. Ich hatte es zu Beginn nicht verstehen können, aber es war so. Dieser brutale Mann und das zarte, zerbrechliche Mädchen. Kein Wunder, dass er sich ständig um sie sorgte.
Die Zeit verging und ich war nur wenige Male zurück auf die Anhöhe geklettert, von wo aus ich die Hauptstadt sehen und meinen Gedanken und Gefühlen nachhängen konnte ohne mich verstellen zu müssen. Rahila hatte mir geraten es zu unterlassen bevor es jemand bemerkte und so hatte ich mich zurückgehalten und Vorsicht walten lassen. Ich wartete immer noch auf ihre Rückkehr und auf das, was sie mir erzählen würde. Diese Frau hatte Geheimnisse und ich war bereit sie zu erfahren.
Als ich an einem frühen Morgen aus dem sich lichtenden Wald zurückkehrte, das Lager noch ruhig, war Jeremy bereits auf. Ich traf ihn bei den Pferden, die hinter dem kleinen Haus angebunden waren, eines von ihnen fertig gesattelt. „Was tust du?", fragte ich überrascht. „Das gleiche könnte ich dich fragen, wo warst du?" Ich zuckte die Schultern als wäre es nichts Bedeutsames. „Ich konnte nicht schlafen, da bin ich ein wenig gelaufen." Es war keine wirkliche Lüge. Aber ich erkannte an seinem Blick, dass er es mir nicht abkaufte. „Wohin reitest du?", lenkte ich das Thema erneut auf ihn. „Es gibt einen Auftrag, der erfüllt werden muss." „Was für einen Auftrag?", ich runzelte die Stirn, davon hörte ich zum ersten Mal. „Mira", ich zuckte beinahe zusammen als er mich bei meinem gekürzten Namen nannte, „du weißt, dass ich dir noch nicht so viel über unsere genauen Pläne erzählen darf." Er band das Pferd los. „Reitest du in die Hauptstadt?", fragte ich deshalb. „Sieht ganz so aus." Er saß auf und sah von oben auf mich herab. „Ich werde bald zurück sein, mach dir um mich keine Sorgen." „Wann?" „Bald." Mehr nicht?Mein Herz flatterte, ich wollte nicht allein gelassen werden. Was sollte ich hier ohne ihn tun. „Versprichst du mir, zurückzukommen?" Er nickte. „Ich versprech's." Dann ergriff er meine Hand und küsste sie sanft. „Wir sehen uns wieder." Ein ähnliches Versprechen hatte mir Rahila gegeben als sie fortritt und dennoch blieb in meinem Bauch ein ungutes Gefühl dabei zurück.
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MIRA
FantasyEine Krankheit breitet sich in Alliera aus und bringt Mira dazu aus ihrer Heimatstadt Fiadah zu fliehen und sich auf den Weg in die Hauptstadt zu machen. Als sie endlich wieder Arbeit findet, führen viele seltsame Umstände zu einer Bekanntschaft, mi...