Johanna Mason - Geschichte einer Siegerin | Kapitel 3

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Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug war es bereits Morgen. Sonnenlicht flutete das Zimmer, was bedeutete, dass der Tag sogar schon ein wenig vorangeschritten war. Wann war ich bitte eingeschlafen?
Sofort setzte ich mich auf und sah zur Seite, doch meine Schwester war bereits verschwunden. Dieses Miststück! Mit Sicherheit hatte sie mich nur schlafen lassen, damit sie das Bad für sich beanspruchen konnte!
Ich sprang aus dem Bett und lief zur Badezimmertür, doch natürlich war sie verschlossen. Ein Pfeifen war zu hören, es war also eindeutig Mary, weswegen ich mit voller Wucht dagegen schlug. Sie ignorierte mich gekonnt.
„Nach ihr bin erst einmal ich an der Reihe, ich warte schon länger.“, teilte mir Eva mit, die an mir vorbei und die Treppe nach unten ging. Na toll.
„Ihr seid alle unmöglich! Ich bin die Einzige die gezogen und auf die Bühne geholt werden könnte, ihr braucht euch also gar nicht so herauszuputzen, niemand wird euch ansehen.“, brummte ich und stapfte ins Zimmer meiner Eltern. Wie immer lag dort bereits ein abgetragenes Kleid meiner Schwestern, welches meine Mutter für mich bereit gelegt hatte. Es war rosa und sah scheußlich aus. Ich konnte also wirklich hoffen dass sie mich heuer nicht zogen, denn ich würde furchtbar aussehen.
Nach einer gefühlten Stunde konnte ich endlich in das Badezimmer, wo ich sofort unter die Dusche sprang. Natürlich war das Wasser mittlerweile eiskalt, da wir nur begrenzt warmes Wasser zur Verfügung hatten, weswegen ich das prasselnde Wasser auf meiner Haut nicht genießen konnte. Ich hasste es das jüngste Kind zu sein.
Nachdem ich mich abgetrocknet hatte und in das blöde Erntekleid geschlüpft war, versuchte ich irgendwie meine Haare in Ordnung zu bringen.
„Lass mich dir helfen.“, erklang da die Stimme meiner Mutter hinter mir, die selbst noch im Nachthemd war. Sie ließ uns immer den Fortritt und das schon seit ich denken konnte. Damit wir das warme Wasser für uns hatten. Meine Schwestern waren nichts so aufopferungsvoll.
„Mach dir keine Sorgen wegen der Ernte.“, begann meine Mutter, während sie mir das Haar bürstete.
„Mache ich mir nicht.“, versicherte ich ihr. Egal welche Gedanken ich mir dank Mary und Treen gemacht hatte, mittlerweile war ich wieder entspannter. Merkwürdig wenn man bedachte, dass in wenigen Stunden die Ernte begann.
„Natürlich nicht. Sollte aber dennoch ein ängstlicher Gedanken sich kurz in deinem Kopf verirren, verscheuche ihn wieder. Denk nur an etwas Positives und hoffe.“
Ich musste zugeben, dass ich die Worte von ihr dumm fand. Wenn mein Name auf dem Zettel stand dann half mir auch kein positives Denken mehr, dann musste ich ins Kapitol. Ihr zuliebe würde ich das jedoch nie laut aussprechen, stattdessen versuchte ich ihr den Gefallen zu tun. Es war auch schließlich angenehmer wenn man nicht die ganze Zeit daran dachte was passieren konnte.
Nachdem meine Haare gerichtet waren drückte sie mich ganz fest an sich, ehe ich sozusagen frei gegeben wurde. Ich ging nach unten und aß ein wenig, ehe ich auch noch von meinem Dad umarmt und verabschiedet wurde. Bevor jedoch meine Geschwister noch damit anfangen konnten flüchtete ich schnell aus dem Haus und hinein in den Wald. Hier verbrachte ich die Zeit bis zur Ernte, bis irgendwann die Sirenen ertönten und ankündigten, dass wir nun alle auf dem Marktplatz erscheinen mussten.
Dort angekommen reihte ich mich still in der Schlange ein, um die Registrierung hinter mich zu bringen. Ein kleiner Piecks und dann war es vorbei. Doch wenn ich dabei in dieses schadenfrohe Gesicht des Kapitolmenschen blickte, wollte ich ihm jedes Mal am liebsten eine reinhauen. Wie sadistisch musste man veranlagt sein wenn man sich sogar über einem kleinen Pieckser in den Finger zu amüsieren schien? Mit finsterer Miene funkelte ich ihn an, wodurch das Lächeln verschwand. Scheinbar hatten sie damit nicht gerechnet, was vermutlich daran lag, dass es selten jemand tat. Ein zufriedenes Lächeln huschte auf meine Lippen, während ich mich zu meinen Gleichaltrigen begab.
Es dauert nicht lange und unsere Betreuerin Camilla Keene betrat zusammen mit dem Bürgermeister die Bühne, gefolgt von unserem diesjährigen Mentor. Ich erkannte ihn als Jason. Er hat vor mehreren Jahren die Spiele gewonnen und machte seitdem immer wieder mal im Wechsel mit Blight den Mentor für Distrikt 7. Er hatte es sogar schon einmal geschafft einen Tribut nach Hause zu bringen. Also standen mit ihm die Chancen gar nicht so schlecht. Da unser Distrikt keinen lebenden weiblichen Sieger hatte, gab es nur ihn als Unterstützung. Ob das ein Vorteil oder ein Nachteil war konnte jeder für sich selbst entscheiden. Zumindest konnte kein Streit über irgendwelche Ratschläge entstehen.
Der Bürgermeister hielt wie jedes Jahr seine langweilige Rede, ehe der Film des Kapitols eingespielt wurde. Doch statt mir diesen lächerlichen Film anzusehen suchte ich den Blick von Treen. Nicht lange, und ich hatte ihn gefunden.
Er sah mir ebenfalls in die Augen, danach begann er plötzlich grimmig zu schauen und deutete auf sich, ehe er so tat als würde er weinen. Dabei zeigte er auf mich.
Toll. Der Bär und die Heulsuse. Ich schüttelte den Kopf und zeigte ihm einen Vogel, danach blickte ich wieder nach vorne.
Mittlerweile war der Film zu Ende und Camilla stöckelte auf ihren hohen Schuhen zur Glaskugel. Manchmal wünschte ich mir sie würde stolpern und fallen, dann hätte die Ernte wenigstens einen unterhaltsamen Höhepunkt, doch diesen Gefallen tat sie mir einfach nicht. Stattdessen rannte sie mit diesen Stelzen über die Bühne als würde sie Barfuss laufen. Ob die so geboren wurden? Vielleicht lernten sie damit auch das Laufen, wer wusste das schon?
Wie ein Habicht stürzte sich ihre Hand in die Kugel und sie nahm den erstbesten Zettel heraus. Langsam faltete sie ihn auseinander und ehe ich es verhindern konnte, packte mich doch die Nervosität. Aber sie würden mich nicht ziehen, auf keinen Fall. Ich brauchte nicht nervös werden, eine Mason wurde nicht gezogen.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, danach ging sie zum Mirkophon und verkündete mit ihrer piepsigen Kleinmädchen-Stimme den Namen.
„Johanna Mason.“
Scheiße!

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