Johanna Mason - Geschichte einer Siegerin | Kapitel 2

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Als ich am Abend nach Hause kam, wartete bereits meine ganze Familie auf mich. Ich konnte nicht anders als deswegen sofort die Augen zu verdrehen. Das alte Mason-Ritual. Familienabend vor jeder Ernte, da man ja nie wusste, ob man danach noch einen Abend hatte, den man gemeinsam verbringen konnte.

Jedes Jahr zauberte unsere Mutter ein aufwendiges Abendessen, das wir uns eigentlich nicht leisten konnten, ehe wir uns dann gemeinsam auf dem Sofa versammelten.

So war es auch in diesem Jahr. Wir saßen alle zusammengequetscht auf der Couch, die von Jahr zu Jahr kleiner zu werden zu schien und irgendjemand erzählte irgendetwas. Gerade berichtete mein großer Bruder Marc stolz, dass meine Nichte nun schon Krabbeln konnte. Genau das Thema, welches mich brennend interessierte.

Genervt lehnte ich mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich liebte meine Familie, allerdings nicht am Abend vor der Ernte. Ich konnte es nicht leiden wenn alle so sentimental und anhänglich wurden.

„Jo?“, flüsterte irgendwann meine Schwester Mary.

Sofort richtete ich meinem Blick auf sie. Meine Schwester war 19 Jahre alt, doch sie sah nicht annähernd danach aus. Im Gegenteil, viele hielten uns für Zwillinge, obwohl ich erst 15 war. Doch dieselbe Haarfarbe, dieselbe Augenfarbe und die in etwa gleiche Statur ließ viele zu diesem Entschluss kommen.

Mary war aber nicht nur meine Schwester, sondern gleichzeitig auch meine beste Freundin. Was praktisch war, da ich nicht wirklich jemand war, der leicht Freunde fand. Ich gab mich nun mal nicht mit jedem ab, das zumindest war die Antwort, wenn meine Eltern Fragen nach Freundinnen stellten.

„Was ist?“, erwiderte ich ziemlich verspätet und schielte zu ihr hinüber.

„Sollen wir flüchten?“

Sofort musste ich grinsen und nickte. So wie das Essen Tradition war, so schien es auch unsere Flucht in unser Zimmer zu sein. Irgendwann wünschten wir unserer Familie gute Nacht und gingen nach oben. Genau wie jetzt auch.

Mary und ich teilten uns das Zimmer, seit ich geboren wurde. Eigentlich hätte jeder, nachdem unser Bruder Marc und unsere Schwester Eva ausgezogen waren, sein eigenes haben können, doch wozu? Tagsüber waren wir in der Schule oder bei der Arbeit, anschließend kamen wir heim und verbrachten die Zeit miteinander. Und ob wir dann zum Schlafen in ein eigenes Zimmer gingen oder nicht war dann auch schon egal. So diente das andere nun eben als Gästezimmer in dem, so wie heute, Eva und Marc übernachten konnten.

Ich warf mich auf mein Bett und sie tat es mir gleich. Eine Weile lagen wir nur stumm nebeneinander, was mit Treen nie möglich gewesen wäre, doch irgendwann durchbrach auch bei uns jemand die Stille. Am Tag vor der Ernte schien auf kurz oder lang wohl niemand seine Klappe halten zu können.

„Ich hasse die Ernte.“, sagte sie.

„Wer tut das nicht?“, konterte ich.

„Das Kapitol?“, schlug sie vor und drehte den Kopf zu mir.

„Okay, ich korrigiere, welcher Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, tut das nicht?“

Sofort fing sie zu grinsen an.

„Gut, darauf kann ich nichts erwidern. Glaubst du sie ziehen dich?“, fragte sie plötzlich und kurz stöhnte ich auf. Konnte sie es jetzt nicht gut sein lassen? Ich finde wir hatten schon lange genug über die Spiele gesprochen. Zudem gefiel mir ihr besorgter Tonfall nicht, denn das kannte ich gar nicht von ihr.

 „Nein, wieso auch? Ich musste nie Tesserasteine nehmen. Außerdem wurde noch nie eine Mason gezogen, warum also sollte es mir dann passieren?“, erwiderte ich mit denselben Worten, mit denen ich mir heute Nachmittag schon gut zugeredet hatte.

Ich konnte regelrecht sehen, wie meine Schwester zu überlegen begann, doch glücklicherweise schien sie es nun doch dabei zu belassen.

Nun kehrte wieder Stille ein, welche mir zum ersten Mal jedoch ein wenig unangenehm war. Vor allem da ich dadurch wieder zu überlegen begann und am Tag vor der Ernte war das eindeutig keine gute Idee. Ich musste immer wieder an Treen und seinen bescheuerten Plan denken. Wie kam er nur auf so eine dumme Idee? Mich schwach stellen. Das würde nie funktionierte.

Ich schloss die Augen und dachte an die Hungerspiele der letzten Jahre zurück. Aus unserem Distrikt kamen hauptsächlich nur männliche Gewinner. Erst ein Mädchen hatte bisher gewonnen, doch die war mittlerweile schon verstorben. Unsere weiblichen Tribute hatten bisher also keine großen Chancen. Würde ich eine haben? Würde ich wieder einen Sieg nach Distrikt 7 holen können? Ich war gut im Umgang mit der Axt und wusste, wie man Fallen stellte. Das Leben im Wald hatte mir zudem gelehrt, wie man Essbares von Giftigem unterschied. Allerdings konnten das auch die meisten anderen Tribute aus unserem Distrikt und doch waren sie alle gestorben. Meist weil sie keine Sponsoren hatten, die ihnen Essen oder eine Waffe zur Verteidigung schickten. Was im Grund, jetzt da ich so darüber nachdachte, noch ein weiterer Beweis dafür war, dass Treen bescheuert war. Man musste irgendwie Sponsoren bekommen, sonst hatte man keine Chance.

Ich schielte zu Mary da ich plötzlich das Bedürfnis verspürte zu reden. Scheinbar wurde ich krank.

„Mary?“, flüsterte ich, da auch sie die Augen geschlossen hatte. Doch sie öffnete sie nicht, stattdessen kam sogar so etwas wie ein Schnarchen über ihre Lippen. Na toll, jetzt war sie doch tatsächlich eingeschlafen! Und dass, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben unbedingt etwas mit ihr besprechen wollte. Doch vermutlich war es besser so, denn sie würde mich nur auslachen wenn ich ihr sagte, dass ich wirklich über die Strategie von Treen nachdachte.

Seufzend schloss auch ich wieder die Augen und versuchte an alles zu denken, nur nicht an die Spiele. Am Anfang klappte es nicht wirklich, weshalb ich Treen in Gedanken verfluchte, dass er heute mit diesem Thema überhaupt angefangen hatte. Das Verfluchen allerdings half mir dann doch an etwas anderes zu denken, vermutlich weil ich das einfach zu gut konnte.

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