Kapitel 60

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Mein erster Arbeitstag war nicht sonderlich anstrengend. Um 14:00 Uhr durfte ich schon nach Hause gehen, da ich mich noch um Cansu kümmern musste. Ich war zufrieden mit meinen Leistungen. Mit positiven Gedanken begab ich mich zu Azra. Dort trank ich eine Tasse Tee mit ihr, da sie darauf bestand. Nihat war derweil arbeiten.
"Und. Wie war dein erster Arbeitstag?", fragte sie mich lächelnd. Jedoch sah ich den Schmerz in ihren Augen. Sie hatte Mitleid mit mir.
"Gut. Es ist ein leichter Job und er gefällt mir sehr", erzählte ich und das freute sie.
"Leyla. Geht es dir gut?", fragte sie mich dann direkt. Die Frage kam überraschend. Ich wollte sagen, dass es mir gut geht. Doch warum sollte ich sie anlügen?

"Naja. Nicht so gut", antwortete ich und senkte meinen Blick. Ja, mir ging es überhaupt nicht gut. Ständig musste ich daran denken, dass Can nicht mehr bei mir war.
"Alles wird gut, Leyla. Wir sind für dich da", sagte Azra und ich wusste das sehr zu schätzen. Zum Glück habe ich meine Familie, dachte ich mir.Vor nicht einmal all zu langer Zeit wollte ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben und nun war ich mehr als froh darüber, sie zu haben. Familie bleibt Familie. Nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte, begab ich mich mit Cansu wieder nach Hause. Ich legte sie in ihr Bettchen, da sie schlief und begab mich dann ins Schlafzimmer. Als ich mir etwas bequemeres anzog, stach mir plötzlich etwas ins Auge. Die Bilder von Can und mir, die auf der Kommode standen. Ich zog mir meinen Pullover über und betrachtete dann diese wunderschönen Bilder. Wir beide sahen auf ihnen so glücklich und verliebt aus. Man könnte gar nicht glauben, dass wir beide nun getrennt lebten. Alle hatten Recht gehabt. Wir passen wirklich gut zueinander, dachte ich mir. Ich nahm ein Hochzeitsfoto von uns in die Hände. Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, während ich über Cans Gesicht strich.

Könnte ich die Zeit nur zurückdrehen. Ich würde es ständig tun. Immer wieder, dachte ich mir sehnsüchtig. Ich wollte Can sehen. Auch wenn es nur für einen kurzen Augenblick gewesen wäre, wollte ich ihn wieder sehen. Ich vermisste ihn so sehr. Sofort wischte ich mir meine Tränen weg, legte das Bild wieder auf die Kommode und nahm mein Handy in die Hand. Sollte ich ihn anrufen?
Die ganze Zeit starrte ich auf seinen Kontakt und wusste nicht mehr weiter. Ich hing sehr an ihm und das würde sich niemals ändern. Das wusste ich. Schließlich brauchte ich ihn. Ohne ihn war alles so leer und einsam. Hoffnungslos legte ich mein Handy weg. Mein Leben ohne Can verlief ziemlich schrecklich. Jede Nacht ein Albtraum, jeden Tag das schreckliche Gefühl, ihn zu vermissen. Ich dachte, dass ich es ohne ihn aushalten könnte. Ich dachte, dass ich ohne ihn normal weiterleben könnte. Doch ich lag falsch. Ohne ihn wurde alles noch schlimmer. Es war, als wäre er tot. Mein Herz schrie jeden Tag immer mehr nach seinem Namen. Can, Can, Can. Es tat weh. Jeden Tag, ein kleines Stück mehr. Es war nicht auszuhalten. Meine Familie hatte mir schon oft geraten, dass ich zu einem Psychater gehen sollte. Ich war psychisch am Ende, machte mich mit meiner Arbeit noch mehr kaputt. Keine Minute gönnte ich mir mal eine Auszeit. Mein Vater bestand darauf, dass ich mir Urlaub nahm. Doch ich hörte nicht auf ihn und überanstrengte mich stattdessen von Tag zu Tag immer mehr. Die Arbeit half mir dabei, nicht an ihn zu denken. Doch die Nächte waren qualvoll. Oft lag ich wirklich nächtelang wach und dachte an Can. Manchmal schlief ich tagelang und träumte von Can. Ich konnte es nicht. Ich konnte ihn nicht aus meinem Leben löschen und ihn vergessen. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Es stimmte. Mit der Entfernung wird die Liebe und die Sehnsucht größer. Von Tag zu Tag immer mehr.

Inzwischen sind vier Jahre vergangen. Vier schmerzhafte Jahre ohne Can. Wie soll ich noch die restlichen Jahre meines Lebens ohne ihn aushalten? Ich bin nun 22 Jahre alt, lebe jeden Tag den selben Ablauf. Ich versuche irgendwie zu leben. Cansu geht nun in den Kindergarten. Ich hatte erlebt, wie sie das erste mal Baba (Vater) sagte, wie sie das Laufen gelernt hatte, das Sprechen gelernt hatte. Sie kommt ganz nach ihrem Vater. Nach ihrem Vater hatte sie in all den Jahren oft gefragt. Die Antwort weiß sie jedoch bis heute nicht. Ich kann sie ihr einfach nicht geben. Mein Vater meinte zu mir, dass ich nun eine Stelle in einer anderen Firma bekommen würde, was ich akzeptierte. Schließlich habe ich nun genug Erfahrung in dem Beruf. Doch als ich erfuhr, welche oder eher gesagt, wessen Fima das ist, konnte ich es nicht glauben. Die Firma, in die ich wechseln soll, ist tatsächlich die Firma, die Can besitzt. Das wollte mir mein Vater schon damals sagen, doch ich hatte ja nicht auf ihn gehört. Nun stehe ich hier, vor Cans Büro und weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. So schnell kann es gehen. Ich lege meine flache Hand an die Tür.

Wie wird Can reagieren? Hat er sich verändert? Ich habe in diesem Moennt so viele Gedanken und mache mir auch etwas Sorgen. Hat er sich sehr verändert? Ich habe Angst, ihm gegenüber zu treten, ihm in die Augen zu schauen. Mein Herz klopft sehr schnell, meine Beine fühlen sich schwach an. Ist das Schicksal? Wenn ja, dann muss ich diesen Schritt wagen. Jahrelang habe ich auf diesen Moment gewartet. Ich werde meinen Ehemann wieder sehen. Also fasse ich meinen ganzen Mut zusammen und klopfte schließlich an seine Tür.
"Herein", ertönt seine Stimme. Er ist es wirklich. Ich spüre, wie ich kurz vor den Tränen bin. Zitternd drücke ich die Klinke nach unten und betrete das Büro. Sofort erblicke ich ihn. Mein Herz schlägt weiterhin wie verrückt, ich bin wie gelähmt. Es ist Can. Can sitzt vor mir. Mein geliebter Ehemann. Er schaut sich gerade einige Dokumente durch, hat mich also noch nicht erblickt. Genau mustere ich ihn. Er sieht nach wie vor ziemlich gut aus. Mit diesem grauen Anzug und seinem drei Tage Bart sogar etwas erwachsener. Aber es steht ihm sehr. Dann blickt er keinen Augenblick später auf und sieht mich an.

Can POV

Ich traue meinen Augen kaum. Ist das möglich? Ist das wirklich Leyla? Ich blickte sie genau an und weiß tatsächlich nicht, was ich tun soll. Genau mustere ich sie. Während ich dies tue, wandert mein Blick zu ihrer rechten Hand. Ich erblicke ihren Ehering an ihrem Finger. Sie hat ihn also nicht abgenommen. Mein Blick heftet sich wieder an ihr Gesicht. So viele Fragen gehen mit durch den Kopf. Was tut sie hier? Moment mal. Ist sie etwa die neue Angstellte, die hierher versetzt wurde? Das ist unmöglich. Ich lege die Dokumente beiseite und gehe langsam auf sie zu. Ich musterte sie wieder von oben bis unten. Sie sieht etwas abgemagert und ziemlich niedergeschlagen aus. Ihre Augen wirken so leer. Sie ist auch blass, jedoch nach wie vor so schön wie ein Engel. Direkt vor ihr bleibe ich dann stehen. Mit glasigen Augen blickt sie zu mir auf. Was soll ich jetzt tun? Ich weiß nicht, was ich fühlen oder denken soll. Wir beide blicken uns eine Ewigkeit gegenseitig nur überrascht an und sind vollkommen sprachlos.
"C-Can?", spricht sie dann nach einiger Zeit ungläubig. Ihre Stimme ist anders. Sie klingt so schwach.

"Leyla", sagte ich nur und kann es immer noch nicht glauben. Ist das ein Traum? Nein. Sie steht tatsächlich vor mir. Nach vier ganzen Jahren treffen wir uns so wieder. In diesen vier Jahren habe ich viel gelitten. Ich dachte, dass ich sie vergessen und aus meinem Leben einfach entfernen könnte. Doch das funktionierte nicht. Meine Sehnsucht wurde von Tag zu Tag immer größer und ich wurde immer einsamer. Doch ich versuchte das zu verstecken, indem ich mich wieder auf den Straßen herumtrieb. Tatsächlich hatte es geholfen. Ich habe gelernt, meine Gefühle zu  ignorieren. Doch manchmal denke ich wirklich an sie. Nein. Ich denke oft an sie. Ist sie sehr verletzt? Isst sie genug? Denkt sich noch an mich? Geht es ihr gut? Jeden Tag habe ich mir immer diese Fragen gestellt und nun steht sie tatsächlich vor mir. Meine Ehefrau. Leyla.

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