Klirrend hole ich meinen Haustürschlüssel aus meiner Tasche. Nach dem fünften Anrufversuch habe ich aufgegeben und mich auf den Weg nach Hause gemacht.
Es passt einfach nicht zu Mum mich nicht abzuholen, sie ist immer so besorgt um mich und Seong. Normalerweise dürfen wir nach Sonnenuntergang nicht aus dem Haus und nicht von der Schule Heim laufen. Was ist gerade mit ihr los? Aber zum anderen ist es auch mal schön. Endlich mal nicht eingesperrt in einem Auto nach Hause zu kommen.
Die Tür öffnet sich mit einem leisen Knartschen. "Ich bin Zuhause!", rufe ich, während ich meine Schuhe ausziehe. Keine Antwort. "Mum! Seong! Seid ihr daheim?", frage ich unsicher, aber laut.
Vielleicht hätte ich doch noch etwas länger warten sollen.
Doch in diesem Moment streckt Seong seinen Kopf aus seinem Zimmer am Ende des Flures. "Kannst du mal deine Klappe halten. Mum ist schon wieder bei der Arbeit, anscheinend hatte sie keine Zeit an dich zu denken", meckert er mich an. Seine Haare stehen in leichten Locken von seinem Kopf ab. "Kannst du das auch netter sagen?", murmel ich verletzt. Ohne ein weiteres Wort knallt Seong seine Zimmertür wieder zu.Super Bruder.
Beleidigt gehe ich in den oberen Stock der Wohnung, in mein Zimmer. Ich schließe meine Zimmertür und lasse meine Sachen einfach fallen. Gekränkt wende ich meinen Blick auf die leere Ecke in meinem Zimmer, in der mal Seongs Bett stand.
Als ich in Busan bei meiner Freundin Taeji war hat er einfach sein Zeug gepackt und hat es in das frühere Arbeitszimmer unseres Vaters gestellt. Jetzt ist es sein Zimmer und ich bin hier alleine. Es fühlt sich so leer ohne ihn an. Was ist nur momentan mit ihm los?
Nun fällt mein Blick auf Wonshiks Blazer, der neben meiner Tasche liegt. Unsicher nehme ich ihn in die Hand. Was soll ich nur von dem Typ denken? Er redet nicht mit mir, schaut mich nicht an, beachtet mich nicht, gibt mir aber dann seinen Blazer. Warum? Kann mir aber jetzt eigentlich auch egal sein. Ich muss auf andere Gedanken kommen. Ich könnte duschen und mich bettfertig machen, das hilft normalerweise immer.Frisch geduscht und in meinen Schlafklamotten komme ich wieder in mein Zimmer. Eine Mischung aus weiß und hellblau erstreckt sich vor mir. Simple Einrichtung. Ein Bett, auf das zwei Leute passen, ein Schrank, ein Schreibtisch und zwei große Regale. Nicht viel Dekoration. Die einzigen beiden Dinge, die mein Zimmer schmücken, sind ein Bild von Seong, meinen Eltern und mir und ein Bild meiner Freunde.
Ehemalige Freunde. Sie wollen mich ja nicht mehr. Und Hongbin und der Rest sicher bald auch nicht mehr. Nein Sun. Nicht darüber nachdenken. Aber mögen Hongbin und die anderen mich wirklich? Oder haben sie nur Mitleid mit mir. Dem kleinen Mädchen, das von ihren Freunden ignoriert wird, das von ihrer Familie ignoriert wird. Einem Nichts in dieser Welt. Was denke ich da? Ich sollte aufhören, sonst mache ich alles nur schlimmer. Heute war ein anstrengender Tag, aber morgen wird es besser werden. Die Jungs mögen dich, du siehst es nur noch nicht. Das würde Ravi jetzt sagen, wenn er da wäre.
Ich strecke mich, bevor ich mein Handy an mein Ladekabel anstecke, das Licht ausmache und mich in mein Bett lege. Morgen wird alles besser. Das ist sicher.Eine weite Wiese erstreckt sich vor mir, die Sonne scheint und es weht ein leichter Wind. Ich fahre mit meinen Fingern durch das Gras. "Hab dich!", höre ich eine Kinderstimme lachen. Zwei Kinder, etwa sieben Jahre alt, tollen in meiner Nähe herum. Langsam gehe ich näher zu ihnen. Es sind Seong und ein jüngeres Ich, die fangen spielen. Das jüngere Ich lacht und versucht Seong einzuholen. Etwas weiter von ihnen sitzt ein junges Paar. Meine Eltern. Glücklich nebeneinander. Die Augenringe meiner Mutter sind verschwunden und sie lächelt, wie schon so lange nicht mehr. Mein Vater, ein großer Mann mit einer langen, aber edlen, Nase und fast schon zu dunkler Haut für einen Koreaner, hat seinen Arm liebevoll um meine Mutter gelegt. Die beiden schauen froh zu, wie ich und Seong miteinander spielen. Entspannt schaue ich ihnen zu. Wieso kann es nicht auch in der Realität so sein? "Daddy! Hab dich!" Mein jüngeres Ich tippt meinem Vater auf die Schulter und rennt lachend weg. "Na, warte", warnt mein Vater spielerisch und rennt dem kleinen Mädchen hinterher.
Hinter meiner Mutter sehe ich nun einen Schatten. Neugierig gehe einige Schritte näher, dies tut auch der Schatten. Je näher ich ihm komme, desto klarer wird das Bild vor meinen Augen und es treibt mir einen Pfeil durch die Brust, als ich erkenne, wer es ist. Meine Schwester Sang. Sie ist gestorben als ich gerade sieben wurde. Knappe vier Jahre wurde sie alt, bevor sie bei einem Autounfall ums Leben kam. Glücklich sie wieder zu sehen, beschleunige ich meinen Schritt. Nun stehen wir voreinander. "Hey", ist das einzige was ich heraus bekomme. Eine einzelne Träne verlässt ihre Augen. Tröstend möchte ich sie umarmen, doch gerade als sich meine Arme um sie schließen löst alles sich in schwarzem Rauch auf. Das Lachen von meinem Vater, Seong und mir verstummt. Alles was ich höre ich ein bestialischer Schrei, danach einen lauten Knall. Verängstigt springe ich auf. Der schwarze Rauch löst sich leicht. In der Ferne erkenne ich den Rücken meiner Mutter. Sie kniet vor etwas, doch ich kann nicht erkennen vor was. Es ist still, nur ihr lautes, herzzerreißendes Weinen durchzieht den Nebel. Ich möchte sie rufen, doch kein Wort verlässt meine Lippen. Ich kann mich nicht bewegen. Es ist, als wären meine Füße am Boden angeklebt. Plötzlich tritt Seong aus dem Schatten. Er ist komplett in schwarz gekleidet, sein Gesicht ist ohne jede Regung von Emotionen. Er starrt mich einfach nur an. Kalt. Leblos. Fieberhaft strecke ich meine Hand nach ihm aus, doch er reagiert nicht. Alles, was er tut, ist seine Augen von mir zu nehmen und sich umzudrehen. Der Rauch umschließt ihn komplett. Verzweifelt versuche ich meine Füße vom Boden zu lösen. Das Weinen meiner Mutter klirrt in meinen Ohren. Ein lauter Schrei verlässt meinen Mund. Ich breche zusammen.
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Sonnenauge ~ #PlatinAward19
FanficIch hatte ein normales Leben, zumindest bis zu dem Tag, als alles den Bach runter ging. Meine Freunde begannen mich zu hassen, meine Mutter und mein Bruder schlossen mich aus ihrem Leben aus. Ich war alleine. Alles was mir blieb war ein Geschenk mei...