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"Ich wechsel die Schule!" Komplett verwirrt starre ich meinen Zwillingsbruder Seong an. "Das ist jetzt nicht dein Ernst? Du wechselst die Schule und hälst es nicht für nötig es mir früher zu sagen", meckere ich ihn schon fast an. "Sun, es ist meine Entscheidung und außerdem geht das dich nichts an", entgegnet er nur. Nervös spiele ich an meinem Kettenanhänger.
Was hat er denn momentan gegen mich? Er ist schon seit Beginn der Ferien so.
"Es wäre vielleicht angemessen deinem Bruder mehr zuzuhören, er hat es doch Beginn der Ferien erzählt", ermahnt mich meine Mutter und setzt sich, mit ihrem Kaffee, zu uns. Ihre Augenringe sind tiefer als normalerweise. Enttäuscht schaue ihr zu ihr. "Mum, ich war zu Beginn der Ferien nicht daheim, ich war in Busan für zwei Wochen", erinnere ich sie. Sie hat es doch nicht ernsthaft vergessen?
Traurig lasse ich meinen Kettenanhänger wieder los.
Mit einem leisen Klappern fällt er auf meine Brust. "Warst du nicht. Ich kann mich doch daran erinnern, dass du hier warst", entgegnet sie nun wütend.

Bleib ruhig. Sie hatte wieder zu wenig Schlaf und dein Vater hat das Kindergeld wieder nicht bezahlt.

Und? Ravi, sie hat kein Recht mir das vorzuwerfen!

Lass es einfach darauf beruhen, ok? Du bist heute in der Schule ja nicht allein.

Soo-Jin, Jumi und Byeol haben sich die ganzen Ferien bei mir gemeldet. Habe ich vor den Ferien etwas Falsches gesagt? Es macht mich fertig nicht mit ihnen zu reden und das wissen sie.

Waren sie nicht alle weg?

Schon, aber ein einfacher Anruf hätte mir gereicht. Ihre Stimmen zu hören und mit ihnen zu lachen.

Hör auf dir darum Gedanken zu machen.

Sicher?

Ganz sicher.

Ich wende meinen Blick wieder auf Seong. "Also laufen wir heute nicht zusammen zur Schule?", frage ich ihn traurig. Er antwortet mir nicht, sondern steht einfach auf. Empört packe ich sein Handgelenk.
Es macht mich wütend und traurig zugleich, wenn er mich ignoriert. "Seong! Ich rede mit dir! Was hab ich dir eigentlich getan? Hör auf dich von mir zurückzuziehen!", schnauze ich ihn an. Sofortige Schuld rast durch meinen Körper.
Vielleicht bin ich zu hart zu ihm. "Lass mich los Sun! Ich muss los", meckert er wütend, was mich noch wütender macht.

Sun bleib ruhig. Er ist es nicht wert.

Ravi, er ist mein Bruder! Meine zweite Hälfte! Er bedeutet mir von allen Menschen am meisten, weißt du wie weh es dann tut, wenn er dich wegstößt? Ich brauche ihn!

Du hast mich.

Super, eine Stimme in meinem Kopf, das ist sicherlich ein Ersatz.

Seong hat sich umgedreht und läuft in Richtung seines Zimmers. "Tolle Unterhaltung, Seong. Mum, ich geh jetzt, die Stimmung ist ja mal wieder wundervoll. Denkst du, dass du mich heute Abend abholen kannst?", murmel ich bedrückt, aber immer noch sauer.
Wieso stelle ich ihr diese Frage eigentlich jeden Morgen? Es ist immer die selbe Antwort. Es wird immer die selbe Antwort sein.
Meine Mutter scheint kurz zu überlegen. "Gut, ruf mich einfach an. Und Sun, nimm dir das mit deinem Bruder nicht so kurz Herzen. Er macht gerade viel durch", antwortet sie mir, mit einem sanften Lächeln. Nicht nur er.
Ich umarme sie schnell, bevor ich meine Sachen packe und das Haus verlasse.

Siehst du? Sie ist nur gestresst. Da vergisst man halt manches.

Trotzdem Ravi...

Immer noch niedergeschlagen laufe ich zur Schule. Die Wut gegenüber Seong schwindet und Reue tritt an ihre Stelle.
Vielleicht bin ich zu Mum und Seong zu hart...

Alles wird jetzt sicher besser. Glaub mir.

Warum? Warum sollte es besser werden? Ohne Seong bin ich aufgeschmissen. Er ist mein Fels in der Brandung, aber jetzt...

Jetzt hast du mich und deine Freunde.

Falls sie mich noch wollen...

Sun, du bist so ein fantastischer Mensch, natürlich wollen sie dich noch!

Ravis Worte muntern mich etwas auf, doch nur etwas. In der Schule angekommen gehe ich direkt in Richtung der Plakate mit den Klassenräumen der jeweiligen Klassen, direkt neben den Schließfächern. Schüler laufen an mir vorbei, doch scheinen mich zu ignorieren.
Besser so.
Meine erste Stunde, Mathe in Raum 7. Neben den Räumen stehen auch die Namen der neuen Schüler in den Klassen.

Agent 007.

Ravi.

Was? Ist doch lustig.

Etwas. Aber nur etwas.

Sieht so aus, als hättest du nen Neuen in der Klasse.

Lee Hongbin.

Hört sich nett an. Vielleicht hat er ja Interesse an einer coolen neuen Freundin.

Ravi, meine jetzigen Freunde reichen mir voll und ganz. Du weißt doch, dass ich es nicht mag neue Menschen zu treffen.

Wenn du meinst. Es war ja nur ein Vorschlag.

Mit einem mulmigen Gefühl laufe ich in Richtung meines Klassenzimmers. Ohne Seong kommt mir die ganze Schule viel bedrohlicher und größer vor. Es ist so anders.

Das bildest du dir nur ein. Du wirst langsam paranoid.

Abgelenkt von Ravis Stimme laufe ich ausversehen gegen jemanden. "Hast du keine Augen im Kopf oder was!", faucht der Junge vor mir mich an. Ich zucke unter seinem scharfen Ton leicht zusammen. "Entschuldige", kann ich nur verschüchtert murmeln. "Jetzt werden wir noch frech huh?", knurrt er. Angst fährt durch meinen Körper, als seine schwarzen Augen meine treffen.
Ich habe mich doch entschuldigt. Was hat er denn jetzt? Doch ich habe nicht den Mut mich zu wehren.
"Keine Worte übrig oder was?", brüllt er schon fast. Verängstigt mache ich mich kleiner, doch das scheint ihn noch mehr zu provozieren. In Zeitlupe hebt er seine Faust und möchte zuschlagen. Seine Hand ist knapp vor meinem Gesicht, als eine schneeweiße Hand das Handgelenk des Schlägers packt. Immer noch ängstlich wende ich einen flüchtigen Blick auf meinen Retter. Ein Junge, mindestens einen Kopf größer als der Schläger, mit schwarzen Haare und einem emotionslosen Gesicht. Er hat etwas einschüchterndes an ihm, aber zugleich beruhigt es mich ihn in meiner Nähe zu haben.

Der Schläger reißt seine Hand los und läuft ohne ein weiteres Wort weiter. "Danke", keuche ich, doch der Junge sagt nichts. Er dreht sich einfach um und geht.
Seltsamer Kerl. Geht einfach weg. Oder Ravi? Ravi? Doch die tiefe, heisere Stimme, an die ich mich schon so gewöhnt habe, erklingt nicht.
Gut, dann möchtest du anscheinend in Ruhe gelassen werden, so wie es alle wollen.
Noch immer mit zittrigen Knien mache ich mich auf den Weg zu meinem Klassenzimmer. Noch niemand ist dort. Ich setze mich in die zweite Reihe ganz nach links.
Die anderen sollten sicher bald kommen. Zumindest hoffe ich das.

Sonnenauge ~ #PlatinAward19Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt