London bei Nacht

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Verwirrt wankte ich nach Hause. Der Regen war wieder stärker geworden und meine Haare hingen mir mittlerweile in dichten Strähnen ins Gesicht und versperrten mir die Sicht. Dann und wann begegnete ich Passanten die mich aus dem Augenwinkel skeptisch musterten und mich einzuschätzen versuchten.

Meine Kleidung entsprach nicht der einer Obdachlosen, war genau genommen sogar recht fein und ansehnlich, dennoch rannte ich bei strömendem Regen ohne Regenschirm und ohne Begleitung draußen durch die Gegend.

Ich hörte Getuschel und Geflüster.

Doch es war mir egal.

Eigentlich war im Moment so ziemlich alles egal. Ich wusste ja nicht mal wo mir der Kopf stand. Oder ob ich überhaupt noch einen Kopf hatte. Ich fühlte mich Kopflos. Verloren. Allein. Im Dunkeln. Blind und Taub.

Der Regen nahm wieder zu und innerhalb von Sekunden, (oder waren es inzwischen Minuten gewesen?) klebte die durchnässte Kleidung an mir wie ein zweite Haut. Ferngesteuert manövrierte ich mich durch die engen Gassen Londons. Ich konnte nicht nach Hause. Ich wollte nicht nach Hause. Ich hatte ein zu Hause mehr. Einen Zufluchtsort, an dem man sich zurück ziehen konnte und sich sicher fühlte. Allein bei dem Gedanken schnürte sich mir die Kehle zu, welche durch die grobe Behandlung James noch immer geschunden war. Reflexartig begann ich mal wieder zu husten. Dies tat ich bereits seit Stunden. Es war als wollte sich mein Körper immer mal wieder vergewissern das die Sauerstoffszufuhr noch gewährleistet war.

Langsam begann die Dämmerung einzusetzen. Das Treiben auf den Straßen wurde weniger, die Straßen leerer. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich tief in Gedanken durch die Gegend gestreunt und mir gar nicht mehr deutlich war wo ich mich befand. Die Umgebung war mir unbekannt und auch die Menschen waren mir suspekt. Die Häuser standen hier näher beieinander. Stellenweise war es so schmal, das keine Kutsche mehr an ihnen vorbei kommen würde. Ich hielt inne und versuchte mich zu orientieren. Neben dem stetigen Prasseln des Regens meinte ich die Themse zu hören. Und Möwen. Da waren definitiv Möwen.

Schnellen Schrittes lief ich weiter in den Querstraßen durch schmale Gassen und Seitenwege.

Ein Mann torkelte an der nächsten Ecke aus ein Bar heraus. Seine Haare hingen ihm ins Gesicht und seine Kleidung war abgetragen und schmutzig. Und er stand mir direkt im Weg. Dann entdeckte er mich, fokussierte mich und kam gurgelnd lachend auf mich zu. Seine Absichten waren ihm eindeutig anzusehen, noch bevor er sich über seine wulstigen Lippen leckte und mir mit einem versoffenen Kopfnicken ein "Hey Schätzchen!" zurief.

Der Adrenalinkick, der mir durch diese Art der direkten Bedrohung verursacht wurde, holte mich aus meiner katatonischen Stimmung. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Es war zwar offensichtlich das der Mann meinte mich bedrohen zu können... Es war jedoch ebenso deutlich zu erkennen das er sehr betrunken und schwerfällig war.

Ich wappnete mich, festigte meinen Stand auf dem Boden unter mir und wartete. Darauf das der Mann mir näher kam. Den Weg hinter sich frei machte.

Der Mann torkelte näher und kam vor mir, mit starker Schräglage zum Stehen.

"Diiisch nehm iiii mit..." Er griff nach meinem Arm. Ich zog ihn zurück und seine Hand schlug ins Leere. Das verstimmte ihn offenbar. Breitbeinig drängte er mich nach hinten. Sein Körper versperrte mir den Weg.

"Gehen Sie mir aus dem Weg!" knurrte ich. Er schaute mich nur belustigt an.

"Sonst..?" Er lachte auf und lehnte sich vor, wobei er seine verfärbten Zähne entblößte. Langsam kippte er immer weiter nach vorne und fiel mir halb in die Arme. Instinktiv fing ihn geradezu auf.

"Ihr Ernst?" ich schaute auf ihn hinunter. Nun war es an mir zu lachen. "Wie wär's mit 'sonst lass ich Sie einfach los'?" Ich schupste ihn wieder auf seine Beine und drängte mich an ihm vorbei. Der Mann strich sie die Haare aus der Stirn und schaute auf einmal beschämt. "Entschhhhhh...*hicks*"

Er lehnte sich an die Wand hinter sich und rutschte langsam an ihr hinab. Ich war schon dabei weiter zu gehen, hielt aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund doch wieder an und drehte mich zu ihm um.

"Meinten Sie Entschuldigung? Sie wollten sich gerade entschuldigen?"

Der Mann war dabei einzuschlafen, nickte aber noch einmal und zwang sich die Augen doch nochmal zu öffnen. "Dasss war nicht meine beste..." Ihm vielen die Augen wieder zu.

Geh einfach Zilpha. Sieh zu das du von der Straße kommst, ehe du dich noch selbst umbringst. Wie viele schlechte Entscheidungen willst du heute eigentlich noch treffen.

Doch anstatt mich auf dem Weg zu machen kniete ich mich neben den Mann und stupste ihn an. Er öffnete erneut seine glasigen Augen. Aus näherer Betrachtung kam er mir gar nicht mehr so bedrohlich vor. Kalter Wind kam auf und schnitt mir durch meine nasse Kleidung. Zum ersten Mal seit Stunden wurde ich mir der Kälte des Frühlings in England wieder bewusst. Dann hatte ich eine Erkenntnis und ich erschauderte. Wenn ich den Mann hier liegen lasse, ist er morgen früh Tod!, schoss es mir durch den Kopf. Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen.

Es ist nicht deine Aufgabe Zilpha. Geh nach Hause. Mein Gehirn schrie mich geradezu an und ich legte die Hände auf meine Ohren um nachdenken zu können. 'Was willst du denn machen, hm? Ihn nach Hause bringen? Wir sind in London, hier sterben regenmäßig Menschen!'

Ich stand auf und schaute mich durch den dichten Regenvorhang um. Suchte nach Hilfe. Doch die Straßen waren leer. Es war nun endgültig dunkel und ich war allein.

"Verfickte Scheiße!", stieß ich eine ganze Reihe Flüche aus und kniete mich doch wieder auf den Boden. Mein Gewissen wollte mich einfach nicht gehen lassen. Durch mein gefluche wieder aufgewacht schaute der Mann mich aus großen Augen an.

Er murmelte etwas das stark nach "Junge, Junge, so habe ich eine Dame aber auch noch nicht fluchen gehört..." klang, ehe er es sich an seiner Wand wieder gemütlich machen wollte. Das er in einer Pfütze lag und bereits mit den Zähnen klapperte fiel ihm dabei aber nicht mehr auf...

Ich trat ihm unsanft in die Seite, mehr um meinem eigenen Ärger über mein Verhalten Luft zu machen, als aus Wut über ihn. Grummelnd stöhnte er auf. "Mensch Mädschen... AU!" Ich hatte ihn unsanft an den Haaren auf seine Knie gezogen und brachte ihn in einem Anschwung von Wut seinerseits dazu, wieder auf die Beine zu kommen.

"Ey, ey, woooah. Waaasch, wieso?"

Natürlich könnte ich ihm erklären das er nicht draußen liegen bleiben und sich den Tod holen kann, aber ich hatte das Gefühl jegliches Gespräch sei überflüssig und wahrscheinlich sehr einseitig. Ich seufzte tief und hakte mich in das wankende etwas ein.

"Waaaa..."

Verwundert schaute mich der Mann von der Seite an.

"Shhhhh!"

Mehr oder minder erfolgreich zog ich ihn neben mir her. In gut zehn Metern Entfernung entdeckte ich einen überdachten Vorsprung unter dem He gesammelt wurde und in dessen näherer Umgebung an der Hausmauer eingezäunt sogar noch ein kleines Feuerchen brannte. Perfekt. Schnellen Schrittes hievte ich uns nach vorne, das Ziel vor Augen. Als wir endlich im trockenen waren hatte auch meine Begleitung endlich verstanden was vor sich ging. Ein einfältiges 'oh' war seine Antwort.

Sobald ich mich ausgehakt hatte rutschte der Mann wieder zu Boden und kam mit einem lauten rums neben dem Feuer zum Liegen. Ich griff beherzt ins Heu, verteilte etwas davon an seinem Körper auch der Seite entfernt vom Feuer und nickte anschließend. Meine Arbeit war getan.

Mein Gewissen gab endlich Ruhe und mein ganzes Abenteuer hatte meine eigenen Probleme wieder in ein angenehmeres Licht gerückt. Gerade als ich dabei war mich umzudrehen und meinen Heimweg anzutreten, meldete sich mein Fremder nochmal zu Wort.

"Danke!"

Anders als die vorherigen Unterhaltungen, falls man unsere Gespräche überhaupt als Unterhaltung bezeichnen konnte, war er diesmal deutlich zu verstehen. Auch sein Blick war wesentlich klarer und sein Ausdruck offen und freundlich. Seine Dankbarkeit war ehrlich. Und ich war froh im geholfen zu haben. 

"Passen sie auf sich auf, okay?", flüsterte ich noch, doch ich war ziemlich sicher, dass die Worte ihn nicht mehr erreichten. Er hatte bereits zu schnarchen angefangen.

Where The Lightning StruckWo Geschichten leben. Entdecke jetzt