Kapitel 30- Familienkonstellation

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„Fass mich nicht an!"

Ihre Augen sind aufgerissen. Ihre Tränen verstummt. Und meine laufen stur weiter. Sie laufen und sie laufen, je länger ich in das Grau blicke, welches meinem so ähnlich ist. Und ich frage mich immer und immer wieder: Bin ich genauso? Habe ich ebenso die Grundlage meine Familie so zu belügen? Mich so zu belügen, bis ich es selber glaube?

„Scarlett! Was ist in dich gefahren?" Fassungslos steht nun auch mein Vater auf, als er sich von dem Tisch abstützt. Seine Augen sind vor Zorn zusammengezogen. Und der Zorn gilt mir, während ich schweige. Ich kann es ihm nicht sagen. Es ist nicht fair. Ich kann nicht und ich werde es nicht. Das ist ihre Aufgabe. Eine Aufgabe, die sie zu erledigen hat. Immerhin war es nicht mein Dad der sie betrogen hat, sondern meine Mom. Immerhin trägt sie nicht sein Kind in ihr, sondern das eines anderen Mannes.

Erbebend drehe ich mich um und ergreife wieder meine Schlüssel, sobald ich an dem Tisch vorbeikomme. Sobald ich die Rufe meiner Eltern wahrnehme. Meine Schritte werden schneller. Meine Füße fühlen sich so taub an, dass ich selber über diese Stolpere. Das ich mein Gleichgewicht verliere und doch wieder fange, nur um voran zukommen. Nur um von hier wegzukommen.

Mir ist bewusst, dass meine Mom nun reden wird. Das sie den Druck ab diesem Moment nicht mehr aushält, sodass sie weinend zusammenbrechen wird. Und mir ist bewusst, dass sie nicht um Vergebung bitten wird, sondern sogleich auszieht. Dafür ist sie zu Loyal, auch wenn die Ironie zu verstehen ist.

Vor lauter Tränen erkenne ich kaum das Haus, welches mir bereits immer Unterschlupf gewährte. Ich erkenne kaum das Haus, welches ich ebenfalls als Zuhause anerkannte und von dem ich so verraten wurde. Und ich wurde selber verraten, sowie mein Dad. Ich wurde selber verraten, sowie Edwin.

Der überraschte Ausdruck weicht, sobald er meine Tränen erkennt, sobald der Mann vor mir meine Trauer und meine Wut zu spüren bekommen. Er blickt mich voller Besorgnis an. Und bevor er ein Wort, meinen Namen, von sich gibt, schneide ich es ihm ab.

„Wie konntest du bloß."

Es ist ein flüstern. Es ist eine Mischung aus knurren und fauchen, dass mich die schwarzen Punkte vor meinem Auge sehen lässt. „Scheiße." Es ist bloß ein Hauchen. Ein Hauchen, dass ihn verrrät. Dass mir verrät, dass ich es mir nicht einbilde. Das ich es mir nie eingebildet habe.

„Ich habe dir vertraut." Krächzend schlinge ich meine Hand um meinen Hals, um den Klos darin fortzuschieben. Um meiner Stimme Kraft zu geben, während sich meine freien Finger in den Stoff meines Pullovers verhaken.

„Hör zu Scarlett, ich liebe sie. Ich habe sie immer geliebt. Sie war unglücklich, aber sie hat es beendet, weil sie deinen Vater Liebt und das habe ich verstanden. Ich stehe eurer Familie nicht im Weg." Seine Hände wollen nach mir greifen, doch ich zucke zurück. Es ist eine Geste die er oft macht. Eine Geste, die so vertraut und Familiär rüberkommt, doch so viele Wunden aufreißt. Er hat uns alle verraten, genauso wie meine Mutter.

Doch seine Worte lassen mich nicht los. Seine Worte zeigen mir nur auf, dass das Schweigen meiner Mutter noch so viel weiter reicht.

Meine Brauen ziehen sich fassungslos zusammen, wodurch ich das ziehen auf meiner Stirn spüre. Ich fühle mich ausgetrocknet. Erschöpft.

„Sie ist Schwanger, Andrew. Sie ist Schwanger und treibt das verdammte Kind ab. Dein Kind." Meine Stimme möchte sich überschlagen. Ich bin mir sicher ich habe Wörter verschluckt, ich habe den Sinn verschluckt und doch hat er mich verstanden. Viel zu gut.

Und nicht nur er.

Mein Blick gleitet an ihm vorbei und ich erkenne Edwin, welcher mit blassem Gesicht in dem Türrahmen der Küche steht. Ich erkenne die Fassungslose Trauer und Wut. Wir scheinen uns zu spiegeln.

„Und Reese hat dich nie beklaut, Edwin." Andrews Blick gleitet erschrocken über seine Schulter, als ich mich an seinen Sohn wende. Doch er kann nicht reden, er kann nicht denken. Er starrt in das Leere, als würde es etwas bringen und dieser Blick erinnert mich an meine eigene Mutter.

„Meine Mutter trägt diese Kette." Füge ich leise hinzu und erreiche erneut die Aufmerksamkeit seines Vaters, welcher sich an mir vorbei drängt. Welcher nun seinem Instinkt folgt, wie ich es bei mir tat.

Und erst als ich die zwei Arme um mich spüre. Erst als ich den Druck um meinen Körper spüre und die sanften Lippen an meiner Stirn, überkommt mich der letzte Rest einer zerstörten Familie. Einer leidenden Familie. Es überkommt mich der Rest der Tränen, die mich auf den Boden pressen. So erbarmungslos.

„Die anderen sollten gleich hier sein." Murmelt er leise, während er mir die Tasse überreicht. Ich umschließe das dampfende Getränk dessen herber Geruch in meine Nase steigt. „Vielleicht könntest du ja einen kleinen Schuss rein machen." Seine Mundwinkel zucken ein Stück nach oben. „Ist schon drinnen."

„Schon komisch." Fragend blicke ich auf und drücke mich dennoch enger an die Couch. „Was?"

„Reintheoretisch sind wir Geschwister." Zögernd schüttle ich den Kopf. „Du hast vergessen, dass sie abtreibt. Ich glaube nicht, dass sie sich danach noch treffen werden." Gebe ich leise von mir, was ihn wiederrum zum verstummen bringt.

„Wirst du mit Reese reden?" Neugierig stelle ich die Tasse ab und wickle mich enger in die Decke ein. „Ich habe mich wie ein Arschloch verhalten. Ich hätte mehr darüber nachdenken müssen, als sie zu beschuldigen, dass sie das Medaillon gestohlen hat." Sanftmütig presse ich meine Lippen aufeinander, während ich ihn mit meiner Schulter anstupse. „Keiner hätte ahnen können, dass dein Dad es war, der es genommen hat, um es meiner Mutter zu geben."

Ich merke wie er etwas sagen möchte, jedoch von dem knatschen der Tür unterbrochen wird. Unsere Blicke gleiten zu den dreien, die inmitten des Wohnzimmers stehen und zu uns nieder blicken. Ich weiß nicht was Edwin ihnen bereits erzählt hatte, ich weiß nicht einmal, was er überhaupt gesagt hat, sodass alle ihre Dinge liegen lassen haben.

Mir ist bewusst das Ian und Connor Training hatten und das Reese wahrscheinlich mit irgendwas anderem beschäftigt war, aber es war mir nicht bewusst, dass sie nach allem was passiert ist, alles aufgeben, um zu uns zukommen.

„Gott, was ist passiert?" Reese ist die erste die ihrer Stimme Kraft verleiht und damit meine Frage beantwortet. Sie wissen nichts. Zeitgleich schauen Edwin und ich uns an. „Es-" Ich breche ab und beiße mir auf meine Lippe, während ich wieder nach der Tasse greife und die heiße Flüssigkeit meinen Rachen hinunterkippe.

„Wir hatten über diese Schuss-Sache geredet." Gibt Ian kritisch von sich, während er zu Edwin schaut. „Es war nötig, Ian." Rechtfertigt er sich sogleich, sodass Ian wieder zu mir schaut. „Mein Dad und ihre Mom haben irgendwas am laufen, Leandra ist Schwanger und möchte das Kind abtreiben. Also es ist nötig."
Nachdrücklich schaut er zu Ian, während ich wieder die Tasse absetzte.

„Scheiße." Fassungslos blickt Reese zwischen uns her.

„Könnten wir kurz reden?" Ihre Augen gleiten von Edwin zu mir, wodurch ich ihr ein nicken andeute. Ihre Schultern fallen ein Stück nach vorne, ehe sie sich umdreht und aus dem Wohnzimmer geht. Edwin folgt ihr sogleich, bis die Tür ins Schloss fällt und ich mit Ian und Connor alleine bleibe.

„Das war es also, was deine Mutter beschäftigte." Haucht Connor leise, ehe er sich auf den freien Platz neben mir nieder lässt. „Scheint wohl so."

„Wie hat dein Dad bisher reagiert?" Ians Neugier in dieser Hinsicht überrascht mich schon fast. Immerhin hat er sich bisher am meisten zurückgehalten und dies scheint wohl seine erste Frage zu sein. „Ich weiß es nicht." Ratlos zucke ich mit meinen Schultern.

„Ich werde es wohl erst wissen, wenn ich wieder Nachhause komme."

(Ex)change-Was sind dir (deine) Geheimnisse wertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt