Kapitel 37-Entschuldigungen

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Es ist die Dunkelheit die unter mein Kleid kriecht, wie die Klauen der finstersten Gestalten. Sie erreicht mich und hinterlässt den bloßen, bitteren Geschmack der Einsamkeit die hier herrscht. Die Obdachlosen liegen in ihren schweißnassen Kleidungen auf dem Boden. Zusammengepfercht, schlafend. Der Anblick zerreißt mir mein Blick und ich verstehe nun auch wieder, warum uns Kindern das Betreten verboten ist. Zumindest das Betreten des hinteren Teils, des Bahnhofes.

Wir haben nicht viele Obdachlose, die Zahl ändert sich jede Nacht wieder. Jedoch bietet der Platz hier den größten Schatten, den sie fürs erste bekommen. Und sie erhoffen sich das Mitleid der Anwohner hier.

„Vielleicht ist es wirklich nur ein total dummer Einfall." Gurrt Reese leise neben mir, während sich ihre Nägel tiefer in meine Haut bohren. Ich klage sie nicht an, es ist gut, dass sie mir zeigt, dass dies kein Traum ist. Das dies hier die bittere Realität ist.

„Wir hoffen es einfach." Flüstere ich heiser, während wir weiter voran gehen. Ich schrecke bei dem Geräusch der hustenden und hungernden Menschen zusammen, ebenso wenn das schleifende und schreiende Geräusch eines Güterzuges über uns fährt. Die Neonlampe an der Decke zuckt unregelmäßig, summend, nervtötend. Das Licht ist gedämmt, die Augen auf uns gelegt.

Und während meine Schultern immer mehr einfallen, erkenne ich die stärke in Connor. Für ihn dürfte das kein neuer Anblick sein. Es fällt mir wieder einmal auf, wie unterschiedlich diese Gruppe doch ist. Und wie lange es noch zwischen uns gut gehen wird. Besonders, wenn jeder sich so zurückzieht und man einem nicht mehr helfen kann. Weder Ian, noch mir, noch Edwin.

Immerhin wollen wir die Kämpfe alleine austragen.

Langsam gleiten unsere Schritte über den Boden, sie hallen, sie schreien so laut wie die Schienen quietschen.

„Leute." Zeitgleich schauen wir zu Reese, welche urplötzlich stehen geblieben ist und ihren Blick auf den Boden verharrt lässt. Der Kloß in meinem Hals bricht zusammen, als ich das angeschwollene Gesicht des Jungen erkenne. Als ich die Blutkruste unter seinem Auge sehe. Die verölten Haare auf seinem Kopf. Zugedeckt bis zum Hals.
Er kann nicht einmal seine Augen öffnen, so verklebt sind seine Lider.

„Edwin." Es ist ein wimmern das meine Lippen verlässt, als ich mich auf meine Knie fallen lasse und meine Fingerspitzen über seine Haut gleiten lasse. Es schmerzt in jeder Faser ihn so zusehen, sein Blut so kämpfend und schwer unter meinen Fingern pochen zu spüren. Es tut so weh.

Er öffnet seine Lippen. Er redet. Irgendwas, doch ich verstehe es nicht. Nicht einmal, wenn ich es wollen würde. Seine Worte sind undeutlich, seine Lippen nicht unter Kontrolle. „Was ist bloß mit dir passiert?" Ich streiche seine Haare aus seinem Gesicht, unter dem Schleier der Tränen mit denen ich ihn betrachte.

„Connor, wir müssen ihn hier wegbringen." Reese. Unverkennbar und doch klingt ihre Stimme so fremd, wie nie. Doch es kommt keine Antwort. Es kommt nichts zurück, dass einer Antwort gleicht.

Flehend gleitet mein Blick über meine Schulter. Und ich erkenne wo das Problem liegt. Connor realisiert nicht, dass das Edwin ist. Er weiß es, aber er möchte es nicht akzeptieren. „Connor, verdammt." Ihre Stimme hallt durch den Bahnhof. Sie lässt nur noch mehr Leute aufschrecken und zu uns schauen. Ihre Hand klammert sich in sein Shirt, sie versucht an ihn zu zerren, sie schlägt gegen ihn, aber bewegt sich nicht.

Ihre Schreie zerreißen mein Herz und doch locken sie Edwin nicht einmal aus dem Zustand seiner Trance. Er ist weggetreten. Bewusstlos. Ich weiß es nicht. Ich will es nicht wissen.

„Connor!" Sein Name hallt wie der eines Mörders durch die Halle. Als würde er daran schuld sein.

Erst der dumpfe Laut der Ohrfeige lässt ihn wieder blinzeln und die einsame Träne über seine Wange loslassen. Sie läuft still. Aber schnell.

(Ex)change-Was sind dir (deine) Geheimnisse wertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt