Kapitel 49-Die letzte Karte des Kartenhauses

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Meine Atmung ebbt ab, als ich meine zitternde Unterlippe zum verstummen bringe. Mein Arm bohrt sich tiefer in meinen Bauch, hält mit allen mitteln die Magensäure entgegen, als die Tür aufgerissen wird und mich diese braunen Augen anstarren.

Der freudige Funken verschwindet aus dem braun, aus dem grün. Sie sind bloß voller Schauder auf mich gerichtet. Es ist ein Stoß der durch mich hindurch gleitet, der mich nicht diesen Blickkontakt unterbrechen lässt. Denn ich habe mich zulange nach diesem Blick gesehnt. In den Momenten, in denen ich Nachts alleine im Bett lag. In den Momenten, in denen mir diese Stadt zeigte, wie sehr sie meine Familie verabscheuten. Wie sehr sie mich verabscheuten. Ich habe sie mit jeder Faser meines Körpers vermisst, mich nach ihnen gesehnt. Nach seinen Berührungen. Nach seiner Lache. Und wenn ich eine Liste machen würde, die erklären würde, wie wir bloß so sehr die Mauer zwischen uns errichtet haben konnten, dann wäre sie unendlich lang. Und nicht einmal die Anzahl der Buchstaben, die Anzahl von Worten und Sätzen würde ausreichen, um alles niederzulassen. Um das Herz zu erleichtern.


„Mein Vater hat Edwin das angetan."

Der Druck um meinen Hals wird immer größer. So viel mächtiger, als das ich es aushalten kann.

„Scarlett." Ian schüttelt voller Fassungslosigkeit den Kopf, doch ich lausche dem Nachdruck, dass diese Fassungslosigkeit nicht mir gilt. „Nein." Ich verschlucke das Wort, als er mich zum schweigen bringen möchte. Als er sich nicht einmal die Erklärungen anhören möchte, die mich nicht schlafen lassen. „Nein, bitte." Stumm läuft die Träne über meine Wange, der Schleier vor meinen Augen wird größer. „Ich bin genug davon gerannt. Ich habe genug in Angst gelebt, Ian." Voller erfurcht schüttle ich meinen Kopf, klammere meine Finger tiefer in den Stoff, um einen halt zu besitzen.

„Ich gehe unter." Wimmere ich leise. „Ian, ich gehe immer weiter unter. Ich kann meinem Vater nicht helfen. Ich kann mir nicht helfen und uns vor allem nicht. Aber ich halte das nicht mehr aus." Meine Stimme gleicht einem krächzen. Eines, welches mich selber erschaudern lässt, eines welches mich selber so in Selbstmitleid versinken lässt, dass sich mein Herz immer weiter zusammenzieht. Das die Stöße immer schmerzender werden lässt.


„Ich fühle mich so einsam. So verloren und fremd. Und ich habe es satt mich für die Taten meiner Familie zu schämen. Ich habe keine Kraft mehr dafür."

Mein Schluchzen erstickt meinen Satz. Lässt ihn enden, ohne das er angefangen hat. Lässt mich bangen, ohne jemals aufgehört zu haben. Für einen Moment löse ich seinen erschütternden Blick, um in die Rehbraunen Augen zu schauen. Ihre zittrige Hand ist auf ihren Mund gepresst. Ihre Träne läuft über die blasse Haut.

Aber es vergehen Minuten, in denen keiner von uns etwas sagt. Die Zeit dehnt sich mit jedem Moment mehr aus, in der Ian und ich uns bloß in die Augen blicken. Wir scheinen jedes Atmen zu vergessen. Wir scheinen jeden Schritt und Gedanken zu vergessen. Mein Herz zerreißt sich unter der Zeit. Meine Kontrolle vergeht unter den Momenten, in denen lediglich der Wind herrscht. Ein Wind, der unser Tal bloß streift. Ein Wind, der uns keine frische Luft zum atmen lässt. Der uns verrückt werden lässt.

„Mein Vater trinkt. Es ist nicht bloß ein Gerücht." Flüstere ich heiser und spüre wie sich der Knoten um meinen Hals wenigstens ein Stück zu lösen scheint.

„Scar." Meine blutigen Lippen pressen sich aufeinander. „Mein Onkel hat ihn dazu gebracht." Wimmre ich verzweifelt. Ians Schultern fallen ein Stück nach vorne, meine Augen pressen sich aufeinander, um die Tränen zurückzuhalten. „Ich hatte alles. Wir hatten alles. Und mit einem Schlag bricht alles zusammen."

Es ist wie ein irres Kartenhaus. Eine Karte wird fortgezogen. Eine Karte wird gezogen, wodurch alle oberen Karten einbrechen. Es bleiben bloß Trümmer stehen. Ein Chaos, dass so groß wirkt, dass man es nicht zu bewältigen scheint. Ein Chaos, dass einen überrascht, dass einen dazu bringt alles zu verlieren. Aber ich hätte niemals gedacht, dass nicht einmal die unterste Karte bisher gezogen wurde.


„Scarlett." Seine Arme schlingen sich um mich. Der Druck um mich wird fester. Der Halt liebender. Die Spannung meines Körpers wird aufgelöst, ich schlinge mich treuer und inniger an ihn. Genieße den berauschenden Duft, der mein Herz immer zu beruhigt hat. Genieße die Freundschaft die unser Grundstein für unser Band war. Und die es immer sein soll.

„Ian."

Zögernd öffnen sich meine Lider, als sich die sanfte Stimme zwischen uns schiebt. Mit Nachdruck und voller Furcht. Ians Muskeln spannen sich unter meinem lösenden Griff an. Sie stoßen mich immer ein Stück weiter fort, bis ich meinen Blick auf die Frau gerichtet habe. Ihre blonden Haare hängen in einer Spange, woraus sich einige Strähnen gelöst haben. Lachfalten liegen unter ihren leuchtenden Augen, die sich auf Ian gerichtet haben. Sommersprossen zieren ihren gesamten Körper, ihre Arme von einer so hellen Bluse verdeckt, dass sie Mütterlich erscheint. Aber niemals würde eine liebende Mutter ihren Sohn so leidenschaftlich ansehen.


Niemals würde sie ihren Sohn mit solch einer Vertrautheit anblicken.

Denn das ist die letzte Karte, des Kartenhauses. 

(Ex)change-Was sind dir (deine) Geheimnisse wertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt