Kapitel 28-Wahrheiten der Lügen

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„Carly du verstehst das nicht." Erneut greift sie nach der Packung, nur diesesmal lasse ich sie mir aus meiner Hand ziehen. Ihre Finger wischen zittrig über ihre Wange. „Wahrscheinlich nicht." Unsere Augen verhaken sich miteinander. Wir trauen uns nicht woanders hinzublicken. Wir trauen uns in diesem Moment nicht. Oder ich ihr einfach nicht.

„Aber wieso? Wieso hast du nichts gesagt? Wenn du das Baby nicht haben willst, dann ist es eine Sache, aber es alleine durchzustehen ist Folter."

Immer mehr Tränen zeichnen eine Spur auf ihrer Wange, wodurch ich mir auf meine Lippe beiße. „Das würden wir niemals schaffen, dass-" Sie bricht ab, als ein Schluchzer über ihre Lippen kommt. Als ich meine Finger um die Stuhllehne klammere, nur um bei bewusstsein zu bleiben. Meine Mutter so gebrochen zu sehen, schmerzt mit jeder Faser. Und ich möchte ihr helfen. Aber sie wird sich momentan noch immer nicht helfen lassen.

„Dad weiß also wirklich nichts davon." Flüstere ich heiser. Ihre Augen reißen sich auf, ehe sie ihre Finger um mein Gelenk schlingt. Ihre Nägel bohren sich in meine Haut und lassen mich schmerzverzerrt zu ihr schauen. „Du darfst es ihm nicht sagen, Scarlett. Versprich mir, dass er nichts davon erfährt." Fassungslos umgreife ich ihre Hand.

Der Griff schmerzt immer mehr. Sie scheint davon besessen zu sein, dass ich ihm nichts sage. Doch ich würde es niemals durchhalten. „Er ist der Vater. Er ist der Vater dieses Kindes, Mom. Was hast du zu verlieren, wenn du es ihm sagst? Wenn er die Wahrheit kennt. Er würde dich genauso unterstützen wie er es vor Achtzehn Jahren bei mir tat. Er würde dich genauso unterstützen, wie er es immer tat."

Durchdringend hallt meine Stimme durch das Tote Haus, als ich mich immer weiter in die Situation rein steigere. Ich kann das Egoistische Verhalten meiner Mutter nicht verstehen. Und als mir der Gedanke kommt, dass sie mein Bruder oder meine Schwester töten möchte, spüre ich nur noch Wut. Und es ist mir in diesem Fall egal, dass es ein Egoistischer Zug ist.
„Du wirst es ihm nicht sagen, Scarlett." Ihr zischender Ton lässt mich zurück schrecken und auf die blasse Haut meiner Mutter blicken.

Sie sieht älter aus, erschöpfter. Sie sieht mit allem am ende aus. Und ich kann mir noch immer nicht vorstellen wieso sie es so sehr verheimlicht. „In welcher Woche bist du?" Hake ich kritisch nach und lasse sie nicht aus den Augen. Fixiere sie, als würde ich so ihre Seele zu fassen bekommen.
„In der achten. Ich habe bisher eine Tablette genommen."

Ich kann die Erleichterung in mir nicht verbergen. Es geht nicht und sie scheint es ebenso zu bemerken. „Du wärest eine tolle Schwester Carly." Haucht sie wehmütig, wodurch meine Züge leichter werden. Und doch spüre ich das stechen in meinem Herzen. „Und wieso nimmst du mir dann diese Chance?" Erneut sind es bloß Fragen. Und statt endlich eine richtige Antwort zu bekommen, habe ich nur noch mehr Fragen, die darauf warten beantwortet zu werden.

„Es geht nicht." Wieder schüttelt sie ihren Kopf, ehe sie sich umdreht und aus der Küche gehen möchte.

„Wenn du es Dad Morgen nicht sagst, werde ich es tun."

Und erneut, ich hasse mich für diese Worte.
Aber ich hasse sie dafür, dass sie mich in diese Lage bringt. Auch wenn ich sogar daran schuld bin, dass ich es weiß. Ich musste es wissen. Und auch den Grund für die Abtreibung muss ich wissen.

„Ich lasse mich nicht von meiner Tochter erpressen." Sie würde mir am liebsten ganz andere Dinge entgegen werfen, doch sie belässt es dabei.

„Die Verzweiflung treibt uns zu schrecklichen Dingen."

Ich greife nach meiner Tasche, als ich an ihr vorbei stürme und in mein Zimmer gehe. Es ist mir zuviel. Zu viel von meiner Mutter, zuviel von Ian. Es sind mir zu viele Fragen, auf die ich einfach keine Antwort bekomme. Und wenn, dann stellen sich noch mehr Fragen auf, als das ich sie beantwortet habe. Und es ist ermüdend. Entkräftend.

Und ich wollte sie niemals erpressen, ich hätte selber nicht gedacht, dass diese Worte über meine Lippen gleiten. Mit soviel Zorn. Soviel Wut. Immer wieder denke ich an das Baby, dass aus unerklärlichen Gründen keine Chance zum Leben bekommt. Und ich denke an mich. Meine Eltern standen damals ebenfalls vor dieser Entscheidung. Sie standen damals ebenfalls vor der Abtreibung, als sie erfahren haben, dass Mom Schwanger war. Als ich ihr Leben durcheinander gebracht habe, als sie bereits mit siebzehn Eltern wurden. Aber sie standen es gemeinsam durch und ebenso haben sie sich gemeinsam gegen diese Abtreibung entschieden. Was hindert meine Mom also nun so daran, meinem Dad all das zu verschweigen. Ihn von all den Entscheidungen fernzuhalten.

Zweifelnd beiße ich mir auf meine Lippe, als ich weiter auf das weiße Holz starre. Als meine Finger bereits nun Blind die Maserungen nachfahren könnten, eben nur, weil ich hier verharre. Ich traue mich nicht zuklopfen und zeitgleich spüre ich den Spott in mir, weil ich es nicht tu. Ich habe nichts zu verlieren, dass sollte mir bewusst sein. Ich brauche einfach nur Gewissheit.

Meine Augen zucken über meine Schulter, als ich das zuschlagen der Autotüren wahrnehme. Als sie in einem Echo in meinen Ohren hallen, als ich die Blondine erkenne, die mich ebenso Überrascht anguckt.

„Ich weiß ich sollte nicht nocheinmal deswegen herkommen. Ich weiß es. Immerhin haben Sie sich beim letzten Mal deutlich ausgedrückt. Aber, wenn er sich bei ihnen meldet, dann bin ich ruhig. Wenn nicht, dann bin ich mit ihnen beunruhigt. Ich möchte nicht nerven. Das ist das letzte. Aber verstehen sie mich. Bitte."

Noch immer schaut mich Janette einfach an. Sie bleibt stehen. Sie prüft meine Worte, sie wiegt sie ab. Es war schon immer die schlimmste Vorstellung für sie, dass ich mit Ian zusammen bin. Aber auch nur, weil diese Frau voller Vorurteile ist. Weil sie nicht genau hinschaut. Weil sie Engstirnig ist. Starrsinnig.

„Wir hatten beim letzten mal bereits geredet, Scarlett."

Ich erschaudere bei ihren kalten Augen, ehe sie auf ihre Veranda neben mich tritt. „Das hatten wir nicht. Ich habe geredet, Sie haben geschwiegen, sowie sie es immer tun."
Scharf ziehen sich meine Augen zusammen. Und doch ist der eisige Blick der mich trifft, ein Tritt in mein Selbstbewusstsein. Ich spüre wie meine Schultern die stärke verlieren und nach vorne kippen. Wie ich kleiner werde. Wie ich diese Idee bereits nun wieder verabscheue.

Und doch erkenne ich das wissende Zucken ihres Mundwinkels, wodurch sich meine Stirn in Falten legt.
„Gib es auf, kleines. Scheinbar möchte er einfach keinen Kontakt zu dir."

„Sie ist Schwanger." Erstaunt beißt sich Haley auf ihre Lippe, während ihre Hand durch ihr volles Haar gleitet und darin ein verirrtes Blatt findet. „Falsch. Sie ist Schwanger und möchte das Kind abtreiben." Korrigierend lasse ich meine Augen auf meine Cousine gleiten. Ich erkenne wie es in ihrem Kopf zu qualmen beginnt. Wie ihre Augen starr in die Ferne gehen, um sich einfach zu konzentrieren. Ihre Gedanken abzuwägen. Eben ob es Sinnvoll ist, was in ihr vor geht. Ein Ausdruck den ich bei unseren Nachhilfestunden ein wenig vermisse.

„Und das ohne deinen Vater einzuweihen." Fügt sie leise hinzu, was mich meine Achtsamkeit wieder auf sie legen lässt. „Das tut mir leid, Scar." Ehrfürchtig senkt sich ihr Kopf, während meine Hände sich fester in die Mähne vergreifen. Ich hatte gehofft, dass dieser Ausritt mich von den Gedanken erlösen könnte, aber scheinbar schaffe ich es hier nur noch mehr zu denken. Und es ist erschöpfend. Ich habe genug gedacht.

„Okay, ich brauche ein anderes Thema. Wie laufen die Debatten?" Kritisch ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen, während sie sich auf ihre Lippe beißt. „Taylor arbeitet nun mit Miranda zusammen, weil du nicht mehr kommst. Aber dafür könntest du wieder mit Ian arbeiten." Ich nicke auf ihre Annahme hin und sehe wie sich ihre Wangen aufpusten, bevor sie die angespannte Luft auspustet. „Dann muss ich mich erst einmal bei Taylor entschuldigen. Ich habe ihn wirklich ein wenig hängen lassen."

(Ex)change-Was sind dir (deine) Geheimnisse wertWo Geschichten leben. Entdecke jetzt