Stimmen im Kopf

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 Kapitel 2

„Ich glaube, er wartet auf den Moment, an dem ich mich in den Hudson werfe", sagte Violet halb im Spaß ohne sich anmerken zu lassen, dass sie das bereits einmal getan hatte. Gleich nach ihrem Ausbruch, als sie wieder klar denken konnte. Schuldgefühle und Trauer hatten ihr die Kehle zugeschnürt und sie in den Selbstmord getrieben. Leider war der Tod längst nicht mehr ein Teil von ihr.

„Erzähl mir von deinem Abend", sagte ihr Vater, ließ seine Hand wieder sinken und legte sie auf seinen schmalen Brustkorb.

„John hat mich wieder zusammen gestaucht, weil ich einem Typen sein Bier ins Gesicht geschüttet habe. Er hat mich betatscht. Aber wie immer ist John der Meinung, dass das kein Grund ist einen Kunden zu vergraulen. Er hat mir das Gehalt gekürzt." Dabei stand ihr das Wasser finanziell sowieso schon bis zum Hals. Lange würde es nicht mehr dauern und sie würde einmal mehr ihren Stolz begraben und einen von den Checks einlösen müssen, die Mr. Groß, Gutaussehend und Herablassend ihr immer da ließ.

Sie wohnte in einer schlechten Gegend, arbeitete in einer noch schlechteren Bar und die Krankenhauskosten für ihren Vater verschlangen fast ihr gesamtes Gehalt. Ob sie es zugeben wollte oder nicht: Nicolas war der einzige Grund, warum sie noch halbwegs klar kam.

Sie erschauderte. Sie wollte seinen Namen nicht einmal denken. Er lag ihr irgendwie immer schwer im Magen. Es war fast so als würde er einen dunklen, schweren Schleier mit sich mit ziehen, immer wenn sie auch nur daran dachte. Wie ein Tuch, das sich über ihren Körper legte um sie zu erdrosseln.

„Er wird dich unterstützen", murmelte ihr Vater schwach. Es war kurz vor Mitternacht und er war sicher müde. Sie hatte keine Ahnung warum ihr Vater seit Nicolas erstem Auftauchen der Meinung war, er würde in irgendeiner Art die Hand schützend über sie halten. Das tat er nämlich definitiv nicht. Ja, er gab ihr Geld und Blut, aber darüber hinaus tat er gar nichts.

Keine Antworten, keine Ratschläge, kein Interesse an ihrem Leben. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte sie sich ihm in der Hoffnung anvertraut, er würde ihr lang ersehnter Ritter in glänzender Rüstung sein, aber er hatte sie wie immer einfach nur angesehen – abfällig eine Augenbraue nach oben gezogen und war dann wieder gegangen. Das war jetzt schon fast zwanzig Jahre her und seitdem war er sogar noch kälter geworden – wenn das überhaupt möglich war.

Sie hatte aufgehört ihm persönliche Dinge anzuvertrauen, noch ehe sie es aufgegeben hatte ihm Fragen zu stellen. Über ihn und über sich selbst. Mittlerweile verabscheute Violet das kleine, dumme, verzweifelte Mädchen, das sie einmal gewesen war. Das sich einsam und verlassen an einen Mann gekrallt hatte, der so etwas wie ein Hoffnungsschimmer für sie geworden war. Aber wer konnte schon sagen was er wirklich wollte.

Mittlerweile war sie diesbezüglich sehr misstrauisch geworden. Sie wusste nicht was er war, aber etwas sagte ihr, dass sie sich überhaupt nicht ähnelten und die leise flüsternde Stimme in ihrem Kopf wurde immer lauter. Diese bösartige Stimme, die ihr immer eines deutlich machte: Sie war allein.

Eine Träne rann aus ihren Augenwinkeln und tropfte auf das schneeweiße Laken ihres Vaters. Ein roter Fleck bildete sich genau dort und Violet wischte sich panisch im Gesicht herum. Sie selbst war immer angeekelt davon gewesen, wenn sie Blut weinte. Aber vor allem störte es sie, dass sie weinte. Sie hatte wichtigeres zu tun als heulend neben dem Bett ihres Vaters zu sitzen und zu hoffen, dass alles wieder so werden würde wie früher. Als sie noch nicht ahnte, dass sie irgendwann Anfang zwanzig einfach stecken bleiben würde. Dazu verurteilt mit anzusehen wie ihr Vater langsam starb und noch mehr Schuld auf sich zu laden.

Als Violet sich aus ihrem Selbstmitleid gekämpft hatte, war ihr Vater eingenickt. Sie erhob sich langsam und glitt fast lautlos aus dem Zimmer. An der Rezeption schob sie der Heimleiterin einen Check über den Tresen und nickte ihr freundlich zu, bevor sie den Reißverschluss ihrer dünnen Jacke schloss und die Kapuze über ihre dunklen Haare schob, um sich zumindest etwas vor dem Regen zu schützen.

Natürlich nutzte es nicht viel. Die Nacht war eiskalt und regnerisch, der Wind peitschte ihr die Regentropfen ins Gesicht, ließ ihren glatten, geraden Pony an ihrer Stirn kleben und durchweichte ihre Sachen. Sie würde nicht krank werden. Violet war noch nie krank gewesen, also kümmerte es sie nicht.

Sie fürchtete sich auch nicht im Dunklen durch die immer schlechter instandgesetzten Straßen von Denver zu laufen. Auch nicht als sie in die Gasse einbog, die für ihre Kriminalität bekannt war. Sie wohnte hier seit nun fast dreißig Jahren und abgesehen von ein paar Typen die versuchten sie anzufassen und die sie spielend abwehren konnte, gab es hier nur nervige Drogendealer und Obdachlose.

So wie Benny, der sich zwischen zwei Mülltonnen vor ihrer Haustür gepfercht hatte um auf ihre Rückkehr zu warten. Sie bemerkte ihn sehr viel eher als er sie und so zuckte er heftig zusammen, als sie plötzlich neben ihm stand.

„He, Vi", grinste er mit seinen verbliebenen, verdreckten Zähnen und dem schmutzigen Bart. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht einmal in einer halbwegs aufrechten Position zu sitzen. Der Regen schien ihn nicht zu stören oder er bemerkte ihn in seinem Zustand einfach nicht. Sie konnte den Whiskey riechen.

„Bemühe dich nicht, Ben. Heute helfe ich dir nicht aus der Patsche", beschied sie, kramte ihren Schlüssel aus der Jackentasche und nestelte an dem Schloss.

„Och komm, ich dachte wir wären Freunde", jammerte er. Violet schenkte ihm keinen zweiten Blick.

„Nein Ben, ich habe nur verhindert dass du totgetreten wirst. Das macht uns nicht zu Freunden"

„Und wie du das gemacht hast. Die Typen sind drei Meter weit geflogen, als wärest du Wonder Woman oder so..."

Violet stöhnte, schaffte es aber das Schloss zu öffnen, obwohl es seit sie hier wohnte klemmte und von Jahr zu Jahr schlechter wurde. „Ben, das hast du geträumt. Ich habe gedroht die Polizei zu rufen und sie sind weggerannt, das ist alles. Du musst mit dem Trinken aufhören." Ihre Stimme war gelangweilt und monoton. Benny legte den Kopf schräg, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. Sein strähniges, irgendwann mal blond gewesenes Haar hing ihm zottelig ins Gesicht.

„Muss ich wohl. Kleine Mädchen, die solche Typen durch die Luft werfen, gibt es nicht. Aber das Trinken ist das Einzige was gegen die Stimmen hilft", murrte er weiter. Violet wusste nicht ob Ben wirklich Stimmen hörte. Manchmal wirkte er so klar, manchmal total verwirrt aber selbst dann nicht so verrückt, wie jemand der Stimmen hörte.

„Naja, ich bleibe hier, wenn es dir nichts ausmacht. In deiner Nähe sind die Stimmen immer leiser." Behauptete er, zog sich ein halb zerfetztes Käppi über die Augen und lehnte seinen Kopf gegen die nackte Steinwand

Beta: Geany Abc

Violet (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt