Kapitel 6
Violet wagte es nicht ihn nach diesem Ding zu fragen, das ihnen die Nachricht überbracht hatte und war selbst erstaunt darüber, wie sehr sich ihre Einstellung geändert hatte. Violet hatte Nicolas Monate lang um Informationen angefleht und ihn für sein Schweigen gehasst. Nun, da er sein Schweigen endlich gebrochen hatte und ihr bereits so viel von selbst offenbart hatte, war es plötzlich nicht mehr so wichtig. Es war zu viel.
Zu viel für eine junge Frau, die gerade ihren Vater und ihren letzten Halt in einem beschissenen Leben verloren hatte. Zu viel für jemanden, der sowieso nirgends dazuzugehören schien und zu viel für den Rest dieser Nacht. Noch nie im Leben war sie je so müde gewesen. Nachdem sie die Begegnung mit dem Ding halbwegs verarbeitet hatte, breitete sich Schwere in ihrem Geist aus und sie schlang die Arme um ihren erschöpften Körper.
„Bleib zumindest solange wach bis wir sicher angekommen sind." Das klang wie ein Befehl, aber in Nicolas Blick, den er ihr durch den Rückspiegel schenkte, erkannte sie tatsächlich so etwas wie Fürsorglichkeit. Das mit der Verantwortung schien er ernst zu nehmen. Dennoch schloss sie müde die Augen und ignorierte seinen gut gemeinten Rat. Er sagte nichts darauf und als Violet tatsächlich in einen leichten Schlaf fiel, wagte er es auch nicht sie zu stören.
Etwas plätscherte in ihrem Geist umher wie ein Tropfen, der langsam einen Stein aushüllte. Ihr Innerstes war eine Höhle, in der sie gefangen war und in der gerade genug Licht schien, dass sie die steinernen Wände um sich herum erkennen konnte. Kein Ausgang, aber zwei Richtungen, in die sie gehen konnte. Beide dunkel und unheilvoll. Der Klang von Wasser auf Stein war alles, was diese Leere irgendwie füllte. Selbst sie war hier leer.
Ein Albtraum.
Violet schlug die Augen wieder auf und musste feststellen, dass der Wagen immer noch nicht angehalten hatte. Wo zum Teufel fuhren sie eigentlich hin?
„Wie lange war ich weg?", fragte sie, lehnte sich nach vorne und schlang erneut die Arme um sich selbst. Nicolas hatte ihr in den letzten Jahren zwar finanziell und nahrungstechnisch geholfen, doch etwas Existenzielles hatte er ihr nicht geben können: Nähe. Violet konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal in den Arm genommen worden war. Und in diesem Moment wollte sie nichts lieber, als sich an irgendeinen Körper zu drücken und die Nähe eines anderen zu spüren. Ihr Vater war mit zunehmendem Alter zu schwach und sensibel gewesen um mehr zu tun, als schwach ihre Hand zu drücken.
„Nur etwa eine viertel Stunde", erwiderte Nicolas mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel. „Wir sind gleich da", setzte er noch nach.
„Lebst du allein?" Wenn sie sich schon so sehr nach Körperkontakt sehnte, konnte er doch unmöglich alleine sein. Es würde ihn sicherlich wahnsinnig machen. „Ja. Ich dachte das wäre offensichtlich", antwortete er fast schon genervt. Und plötzlich überkam Violet Mitleid – ausgerechnet für ihn. Nicolas schien das nicht zu entgehen.
„Was?", fragte er noch eine ganze Spur verstimmter. Doch Violet sah ihn unbekümmert weiter durch den Rückspiegel entgegen und schüttelte leicht den Kopf.
„Ich kann es mit nur kaum vorstellen. Die Einsamkeit hat Spuren in mir hinterlassen, selbst nach den wenigen Jahren. Du scheinst schon länger allein zu sein. Vermisst du denn gar nichts?"
Nicolas schnaufte und sah wieder auf die Straße. Seine Antwort klang ungewohnt patzig.
„Man gewöhnt sich dran", knurrte er etwas verstimmt und Violet wusste, dass sie gerade einen empfindlichen Punkt erwischt hatte. Das konnte sie nachvollziehen. Wer würde denn schon freiwillig zugeben, dass man einsam war?
„Was machst du dann den ganzen Tag?", fragte sie ehrlich neugierig und wünschte sich plötzlich, sie hätte sich doch neben ihn gesetzt. Sie hatte nie viel mit ihm gesprochen, geschweige über etwas so privates, doch in diesem Moment schien er zugänglicher als sonst und das wollte sie nutzen.
„Abgesehen davon, dass ich versuche dich aus Schwierigkeiten herauszuhalten?", diese Gegenfrage sollte sie sicher dazu bewegen ruhig zu sein, aber es klappte nicht. Violet mochte sonst eher einen launischen Charakter besitzen. Aber momentan war sie emotional so ausgebrannt, dass sie seine Worte mit einem Schulterzucken abtat.
„Ja. Was machst du, wenn du mir keine Checks ausstellst oder mir Blut besorgst?" Nicolas warf ihr einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu, bevor er seufzte und zu verstehen schien, dass sie sowieso keine Ruhe geben würde.
„Ich denke ich bin so etwas wie ein Sammler und versuche dadurch die Erinnerungen wach zu halten."
„Welche Erinnerungen?", fragte sie und legte ihren Kopf schräg.
Diesmal verweilte sein Blick gefährlich lange auf ihr. Auf ihr selbst und ihrer blassen Kehle, die sich durch ihre Bewegung vor seinen Augen entblößt hatte. Noch bevor Violet das wirklich realisieren konnte, konzentrierte Nicolas sich wieder auf die Straße. Violet spürte wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und sich Hitze in ihrem Gesicht sammelte.
Wieder wurde ihr bewusst wie gut Nicolas aussah und dass sie mit diesem sexy Bastard zusammen leben würde, dass er quasi ihr Meister war. Während die selbstbestimmte Frau in ihren Inneren gegen diesen Ausdruck rebellierte, nahm der Rest ihres Körpers nur ein Gefühl war: Erregung. Was vollkommen unpassend war!
„Daran, dass wir in unserer Vergangenheit tatsächlich einmal ein Volk waren und keine kulturell zersplitterten Kreaturen, die nur Anarchie und Chaos kennen. Es gab einmal eine Ordnung."
Violet ließ die Worte auf sich wirken und fragte sich, ob hinter dieser kalten, unnahbaren Fassade so etwas wie ein Träumer steckte. Vielleicht sehnte sich Nicolas nach diesen Zeiten, hatte sie eventuell selbst erlebt und mied sein eigenes Volk deshalb. Doch das würde sie ihn nie so direkt fragen.
„Und wie hältst du diese Erinnerung am Leben?", fragte sie ehrlich neugierig. Sie mochte auf ihn nicht besonders gebildet wirken, aber sie war schon immer wissbegierig gewesen und selbst jetzt, nach diesem Abend, meldete sich ihre Neugierde mit aller Macht.
„Wie gesagt: ich sammle. Hauptsächlich Aufzeichnungen und Artefakte." Violet lehnte sich zurück in den Sitz und sah verwirrt aus dem Fenster. Es klang, als wäre er ein Professor, der tatsächlich Erfüllung in seiner Aufgabe gefunden hatte. In Gegensatz zu allem anderen was er ihr gesagt hatte, hatte er nun weder abwertend noch kalt gewirkt. Sondern sehnsuchtsvoll und zuversichtlich. Dabei war sie sich immer sicher gewesen, dass Nicolas alles andere als ein positiver Mensch war. Dann kam ihr noch ein anderer Gedanke.
„Was bin ich für dich? Ein Rätsel was du lösen willst? Eine Beschäftigungstherapie?"
Er sah sie wieder an. Lange. So lange, dass Violets Puls höher schlug. Nicht nur, weil sie Angst hatte er könnte einen Unfall bauen, sondern auch weil sein Blick zu eindringlich war. Zu bedeutsam. Man sah ihm an, dass er etwas sagen wollte und man erkannte genau den Moment, an dem er beschloss es nicht zu tun. Denn das war der Moment, indem sämtliche Leidenschaft wieder aus seinem Blick verschwand und seine Augen kalt wurden.
Sie rechnete es ihm hoch an, dass er sie nicht belog. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, er würde ihr tatsächlich falsche Informationen geben, was irgendwie zu ihm passte. Er schwieg einfach, wenn er etwas nicht sagen wollte oder konnte. Und Violet akzeptierte sein Schweigen.Beta: Geany Abc
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Violet (Bd 1)
VampireEs ist nur eine Frage der Zeit und von der hat sie unendlich viel. Als die letzte Verbindung zu ihrem normalen Leben kappt, ist Violet allein. Allein in einer Welt in der sie definitiv nicht hingehört, denn Violet ist ein Vampir. Ganz plötzlich und...