Schreie

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Kapitel 8

„Das hier ist deines", sagte Violet und hielt demonstrativ das Glas in die Höhe, bevor sie den Rest austrank. Es war nicht wirklich eine Frage, nur eine Wahrheit, die er nicht vorgehabt hatte ihr zu offenbaren. Nicolas sah sie eine Weile einfach nur an, dann nickte er etwas widerwillig.
„Du willst nicht das ich es weiß?"
„Ich wusste nicht wie du reagierst."
Das ließ sie gelten. Sie wusste selbst jetzt noch nicht wie sie reagieren sollte. Sie hatte sein Blut getrunken und es hatte ihr  geschmeckt. Was sagte das über sie aus? Sie hatte das Trinken von Blut immer eher als etwas Klinisches betrachtet, wie das Essen selbst auch. Es war etwas was sie tun musste, um zu überleben und in Gegensatz zu einigen Vampiren aus Film und Fernsehen, hatte sie dabei keine moralische Bedenken. Warum auch? Hühnchen isst man doch schließlich auch, oder? Aber nun, da sie wusste dass es sein Blut war, löste es etwas in ihr aus.
Aber mit ihrem aktuellen Gefühlswirrwarr, war kaum zu bestimmen was genau sie bei diesem Wissen empfand. War es ihr unangenehm, war es ihr zu intim? Sie wusste es nicht und umso länger sie einfach nur da stand und darüber nachdachte um so verwirrender wurde es.
Sie drehte sich zurück zur Badgarnitur und stellte das Glas auf einer kleine Ablage neben den Waschbecken ab, bevor sie ihre hohle Hand unter den immer noch laufenden Wasserhahn hielt und sich daran machte ihr Gesicht zu säubern. Sie wollte gar nicht wissen wie viel Blut noch an ihrem Kinn klebte.
„Ich entsorge das Blut aus deinem Kühlschrank, dann mache ich dir noch ein Glas", verkündete er nachdem er sie eine ganze Weile einfach nur dabei beobachtet hatte, wie sie sich wusch. Violet sagte nichts dazu, griff nach einem Handtuch und trocknete sich das Gesicht bevor sie einen Blick in den Spiegel warf.
Vampire hatten ein Spiegelbild. Nicht gerade überraschend, dass sie schließlich auch noch einen Herzschlag in ihrer Brust spürte. Aber als ihr das auffiel, musste sie dennoch grinsen. Ein wenig zumindest und nur solange bis sie ihr Gesicht im Spiegel wahrnahm.
Sie war schon immer blass gewesen, aber die dunklen Schatten unter ihren Augen hatten sich verstärkt und der glasige Ausdruck darin, zeigte deutlich dass sie geweint hatte. Dass sie Blut geweint hatte. Warum auch immer von diesem merkwürdigen Effekt nur ihre Tränendrüsen betroffen waren wusste sie nicht. Denn nach wochenlanger Test wusste sie ganz genau, dass dies die einzige Körperflüssigkeit war, die sie als Blut absonderte. Wenn sie es schaffte ins Schwitzen zu geraten, was kaum möglich gewesen war, war der Schweiß so farblos wie der eines jeden anderen und auch ihr Speichel war wie immer.
Den Rest konnte sie nicht beurteilen. Sie verspürte bereits seit Monaten nicht mehr das Bedürfnis eine Toilette aufzusuchen und ihre Tage hatte sie seit Jahren nicht mehr gehabt. Aber dort wäre Blut ja nichts Ungewöhnliches gewesen.
Stumm rieb sich Violet die Wangen und strich ihren Pony glatt um sich halbwegs wieder in Ordnung zu fühlen, nachdem sich ihr Magen so spektakulär auf links gedreht hatte. Damit war sie so intensiv beschäftigt, dass sie das leise summen erst bemerkte, als es zu einem zischen geworden war.
Es war ein merkwürdiger Ton, hatte etwas von einem dunklen, unheilvollen Singsang und Violet hatte genug Horror-Filme gelesen, um zu wissen, dass sie diese Geräuschquelle lieber nicht folgen sollte aber: Sie war ein Vampir, mit der nervigen Eigenschaft, einfach immer alles wissen zu müssen und so streckte sie ihren Kopf aus der offenen Badezimmertür und sah sich im Flur um.
Dämmriges Licht, überfüllte Bücherregale. Alles wie immer und doch vernahm sie aus der Richtung der Eingangstür dieses summen.
Violet war das Handtuch zurück in das Waschbecken, blickte in die Richtung, in der Nicolas verschwunden war und folgte den Summen. Dem Summen, das zu einem Krächzten wurde. Einem hohen, schrillen Ton und dann einem Fauchen. Als sie ein Wimmern und einen zerreißenden Kinderschrei heraushörte, machte sie erschrocken einen Schritt zurück und zuckte heftig zusammen, als mit einem lauten Knall ein Buch neben ihr aus dem Regal fiel.
Mit ihrer übernatürlichen Geschwindigkeit drückte sie sich an die gegenüberliegende Bücherwand und starrte auf das Buch herab, das ihr beinahe ein Herzinfarkt verursacht hatte. Das Summen war vorbei, da war nichts mehr im Flur und alles was sie hörte, war das leise klirren von Flaschen aus der Wohnküche.
Vielleicht wurde sie verrückt. Vielleicht war dies nur eine verspätete Folge auf dieses ekelhafte Blut was sie getrunken hatte, aber vielleicht wurde sie einfach nur verrückt. Ja. Verrückt traute sie sich zu, deswegen beließ sie es dabei. Resigniert holte sie Luft, schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf und griff nach dem Buch, das sie so erschreckt hatte.
Der entsetzliche Schrei war zurück. Dröhnte in ihren Ohren und war so laut, dass sie glaube ihr Kopf müsste zerspringen. Wieder stolperte Violet zurück, donnerte mit dem Rücken gegen die andere Wand und ließ das Buch wieder fallen.
Doch das Buch ließ sie nicht los.
Ihre Hand brannte und nun wusste sie nicht ob die Schreie die sie hörte, ihre eigenen waren oder die in ihrem Kopf, aber sie schrie. Ihr Kopf knallte gegen eines der Bücherregale, als sie versuchte den Gang entlangzustolpern, um von diesem Ding weg zu kommen. Doch es half nicht. Das Fauchen, das Schreien in ihrem Kopf, verstummte nicht und auch nicht das furchtbare Brennen an ihrer Hand. Es fühlte sich an als hätte sie in Säure gefasst, als würde ihre Haut abbrennen und ihr Hirn unter den Klang der Schreie zu Brei werden. Der Schmerz in ihrem Kopf oder der ihrer Hand. Welcher Schlimmer war, konnte sie nicht sagen und sie hatte auch keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, denen ihr Verstand konnte die Töne nicht verarbeiten und drohte einfach zu zerspringen.
„Violet!" Nicolas Stimme hörte sie nichts wirklich. Es war, als würde er durch eine Wand mit ihr sprechen aber sie sah ihn. Sie sah, wie er sich über sie beugte, wunderte sich, warum sie auf den Boden lag und sie versuchte mit ihrer Hand nach ihm zu greifen, doch die verbrannte Hand machte das unmöglich. Es kam ihr so vor, als würde sie schmelzen, als würde ihr ihre verdammte Hand einfach wegfließen und das Gefühl breitete sich aus.
Sie sah wie Nicolas Mund sich bewegte, er sie berührte, sie auf seine Arme hob und mit sich trug, ohne dabei mehr als einen flüchtigen Blick auf das Buch auf dem Boden zu werfen. Nahm er es überhaupt wahr oder war es nur eines von unzähligen Büchern, die in seinem Flur herumlagen? Und spielte das überhaupt eine Rolle? Er warf sie förmlich auf die kleine Couch, riss sich mit den Zähnen sein Handgelenk auf und drückte es gegen ihren Mund.  

Beta: Geany Abc

Violet (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt