Umplanen

5K 354 18
                                    

Kapitel 5
Violet verengte die Augen in seinem Rückspiegel und der Stein in ihrem Magen, den die Beerdigung ihres Vaters in ihr hinterlassen hatte, verwandelte ihren Trotz in Wut. Dennoch versuchte sie sich nicht wieder in ein nerviges Kind zu verwandeln. Emotional gesehen war sie heute buchstäblich am Ende und wenn sie es nicht bald schaffte ihre Gefühle zu ordnen, glaubte sie, explodieren zu müssen. Also ignorierte sie den bitteren Nachgeschmack, den das Wort „Zögling" in ihr auslöste und versuchte vernünftig zu sein.
„Was ist ein Zögling?" Natürlich wusste sie was das Wort bedeutete. Obwohl Nicolas sie anscheinend für einen ungebildeten Vollidioten hielt – er hatte immer die Nase gerümpft, wenn sie ihren Job in der Bar erwähnte – war sie nicht so furchtbar schwer von Begriff, wie er wahrscheinlich glaubte.
„Ein junger Vampir. Einer, der noch erzogen werden muss. Normalerweise. Aber viele Vampire nehmen dieses Wort als Synonym für einen Untergebenen." Ja. Also war sie offiziell ein dummes unerzogenes Kind oder ein Sklave. Da war sie wieder: die Bitterkeit auf ihrer Zunge.
„Das Wort impliziert aber auch etwas, was sehr viel wichtiger ist: Wenn du mein Zögling bist, trage ich die Verantwortung für dich. Es bedeutet, dass du meine Kreatur bist. Das ich dich erschaffen habe."
Stille legte sich über den Wagen und Violet hätte schwören können, dass selbst ihr Herz für einen Moment aufgehört hatte zu schlagen. „Du sagtest es impliziert das. Weil du den Anderen weiß machen willst, dass du mich erschaffen hast, aber das hast du nicht."
Nicolas hielt an einer Kreuzung, drehte sich zu ihr um und sah sie auf eine Weise an, die weder geringschätzig noch abstoßend war.
„Es ist wichtig, dass die Anderen das denken. Es ist wichtig, dass Margareta es glaubt, damit fällst du offiziell aus ihrem Herrschaftsgebiet. Niemand darf auf die Idee kommen, dass du vogelfrei sein könntest. Ein so junger Vampir – ganz allein, der keinen hat der ihn beschützt, wird immer nur ein Opfer sein. Nie mehr. Und sie werden meist nie alt genug um sich selbst zu verteidigen."
Wie die Obdachlosen auf den Straßen. Violet wusste genau, was er meinte und wenn sie tatsächlich noch ein junger, schwacher Vampir war, hing ihr Überleben davon ab. Sie war abhängig von Nicolas, das war sie schon sehr lange und es würde sich so schnell wohl auch nicht ändern. Das ärgerte sie enorm. Sie wollte ein eigenes selbstbestimmtes Leben führen, war aber wieder dazu gezwungen den Kopf einzuziehen und still auszuharren. Sie war es so leid, wagte es aber nicht seine Hilfe, seinen Schutz, abzulehnen. Sie brauchte ihn um zu überleben und obwohl sie ihn verabscheute und ständig ihre Wut an ihm ausließ, war er doch der Einzige, den sie noch hatte.
Tränen bahnten sich erneut ihren Weg an die Oberfläche und sie wischte sich die verräterische Nässe schnell aus den Augenwinkeln. Das Gefühl der vollständigen Einsamkeit nagte an ihr, wie eine kinderfressende Hexe.
„Margareta. Muss das heute sein?", fragte sie noch während sie hektisch versuchte den immer neuen Tränen Herr zu werden.
„Umso schneller wir es hinter uns bringen, umso-„
‚Ich kann das nicht', fuhr sie leise dazwischen. Sie sah ihn durch den Rückspiegel an, hielt seinen Blick fest.
„Bitte. Ich habe gerade meinen Vater verloren, mein Leben. Gib mir nur eine Nacht", flehte sie und brach dann den Blickkontakt schnell wieder ab. Sie fühlte sich schwach, verloren und so unendlich leer, dass es ihren Stolz vollständig untergrub.
Nicolas hielt erneut an der Seite, setzte auf die leere Straße den Blinker und wendete in einem Zug den Wagen. Violet amtete erleichtert auf, lehnte ihre Stirn an das kühle Glas und sah wieder nach draußen. Diesmal wollte sie nicht wissen, wohin sie fuhren, sie wusste aber, dass sie ihre Wohnung nie wieder betreten würde. Und sie war froh darum in nichts weiter, als dem was sie am Leib trug, aus dieser Einöde verschwinden zu können. Es gab nichts, was sie vermissen würde. Sie hatte alles verloren. Alles.
Ihr Leben, ihren Vater, ihre Zukunft ... ihre Mutter.
Bei dem Gedanken an die Frau, die sie zur Welt gebracht hatte, rebellierte ihr Magen und ihr wurde schlagartig speiübel. So sehr, dass sie ihre Faust auf ihren Magen presste und sich zusammen krümmte. Es war ihr egal ob Nicolas es sah, ob irgendwer mitbekam wie sie hier im Wagen von ihren Erinnerungen an diese entsetzliche Nacht, die ihrer Mutter das Leben gekostet hatte, mitgerissen wurde.
Die Nacht als zum ersten Mal der Hunger in ihr erwachte und sie die Kehle ihrer Mutter in Fetzen riss um an das herrliche, warme Blut zu kommen. Schuldgefühle wallten in ihr auf und sie zwang sich dazu, sie wieder in das kleine Loch ihres Herzens zurück zu drücken aus der sie kamen. Doch keinen Moment würde sie ihre eigene Schuld vergessen.
„Weißt du, wer mich erschaffen hat?", fragte Violet nach einer gefühlten Ewigkeit. Sie war sich nicht einmal sicher ob sie überhaupt „erschaffen" worden war. Sie erinnerte sich nicht an einen Übergriff oder etwas anderes. Doch es schien üblich zu sein, dass Vampire so entstanden. Zumindest etwas mit dem diese ganzen Vampirgeschichten richtig lagen.
„Ich habe einen Verdacht. Aber es ist zu früh um ihn zu äußern, es wird di-„
Violets Körper wurde nach vorne geschleudert, der Gurt drückte sich schmerzhaft in ihren Oberkörper. Reifen quietschten und während Violet einige Sekunden brauchte um ihr durchgerütteltes Hirn zu ordnen, lag Nicolas Blick auf der Straße vor ihr.
Sie standen mitten auf einer Einbahnstraße einer eher einsamen Wohngegend und die Straßenlaternen schafften es nur schwer, jeden Winkel der engen Gassen und verwinkelten Häuser zu beleuchten. Doch was sie offenbarten, reichte Violet bereits völlig.
Direkt vor ihnen, vielleicht zwei Meter von der Motorhaube entfernt, stand ein Mann. Ein Mann mit nur einem halben Gesicht. Seine Haut wirkte kränklich, sein eines Auges blickte fahl und stumpfsinnig zu ihnen in den Innenraum des Wagens. Seine Schultern hingen herab und als er sie emotions- und lustlos anblickte, konnte Violet den Blick nicht von der fehlenden Hälfte seines Gesichtes nehmen.
Es fehlte wirklich. Sie übertrieb nicht.
Seine gesamte linke Gesichtshälfte war quasi nicht vorhanden. Da wo sein zweites Auge sein sollte, sah sie nur aschfahle gerunzelte Haut, ein Nasenflügel fehlte und sein Mundwinkel schien irgendwie zusammen gewachsen. Scharf standen die Wangenknochen hervor und betonten diesen monströsen Anblick. Sie hatte noch nie einen so missgestalteten Menschen gesehen.
„Du bleibst sitzen!", befahl Nicolas hart und stieg bereits aus dem Wagen ohne ihre Antwort abzuwarten. Für einen kurzen Augenblick wallte der Drang in Violet auf ungehorsam zu sein. Sie war nie jemand gewesen, der sich gerne Befehle erteilen ließ, aber sie tat es nicht. Ihr Instinkt, den sie so deutlich noch nie wahrgenommen hatte, schrie sie förmlich an, diese Situation von Nicolas klären zu lassen.
Und als der leere Blick dieses Monsters auf ihre kleine Gestalt auf der Rückbank viel, konnte Violet es nicht verhindern sich etwas tiefer in ihren Sitz zu drücken.
„Was willst du?", fragte Nicolas dieses Etwas, das einfach weiter in das Auto stierte, ohne den Mann zu beachten, der es angesprochen hatte. Es legte den Kopf mit zitternden, unstetigen Bewegungen schräg, was die Monstrosität verstärkte und Violet wirklich Angst machte. Das Ding war nicht nur eklig anzusehen. Sie hatte Angst davor. Es schien wie aus einem Horrorfilm entsprungen.
Nicolas ging um den Wage herum und packte dieses Geschöpf am Oberarm, worauf es wie ein Tier den Mund aufriss und ihn anfauchte. Violet wusste nicht, ob es dies nur sehr leise Tat und das meiste von der Autowand abgefangen wurde oder ob es wirklich dieser merkwürdig schrille Ton war, den sie glaubte wahrzunehmen.
Mit derselben ruckenden Bewegung drehte er seinen Kopf zu Nicolas und verdrehte dabei unnatürlich weit seinen Kiefer. Eine bläulich-graue Zunge fuhr aus der einen Hälfte des Mundes heraus und offenbarte eine kleine Rolle, die darauf gelegen hatte.
Violet spürte, wie ihr wieder schlecht wurde. Doch Nicolas schien sich nicht an diesem widerlichen Etwas zu stören. Er griff nach der kleinen Rolle auf der Zunge, öffnete sie mit einer Hand und las.
„Sag deiner Herrin, dass wir sie morgen besuchen werden", beschied er in demselben Befehlston. Wobei der Blick des Monsters sich wieder auf Violet auf der Rückbank heftete. Nicolas stieß ihn mit Gewalt zur Seite.
„Tu, was ich dir sage, sonst schicke ich deiner Herrin nur deinen Kopf zurück!", meinte er nun tatsächlich wütend und machte einen bedrohlichen Schritt auf das Etwas zu. Dieses senkte den Kopf und machte einen Schritt zurück, was Nicolas offenbar als Niederlage interpretierte. Als hätte er einen Hund getreten. Nicolas stieg zurück in den Wagen. Der kleine Zettel landete im Aschenbecher.
Als der Wagen wieder startete, blieb das Wesen einfach am Straßenrand stehen und sah mit diesen leeren, gruseligen Augen dabei zu wie sie wieder losfuhren. Doch als sie dann einmal blinzelte und wieder hinsah, war es verschwunden. Ein Schauer fuhr über ihren Rücken und er wollte einfach nicht vergehen.
Instinktiv rückte sie weiter von der Scheibe ab und wusste, dass dieses Ding nicht das Schlimmste war, was sie je sehen würde.  

Beta: Geany Abc

Violet (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt