Trauer und Wut

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Kapitel 4
Die Worte des Pfarrers verschwanden unter dem monotonen Klopfen der Regentropfen auf ihrem Schirm, als sie auf den dunklen, schmucklosen Sarg schaute. Sie sah ihn nicht wirklich, sah gar nichts weiter als eine bleiche, hoffnungslose Schwärze, die sich vor ihr auftat und das Leben verschlang, was sie bis dahin gekannt hatte. Trostlos und mit diesem zermürbenden Klopfen auf den Schirm prasselte der Himmel auf sie nieder. Ein Echo ihres eigenen Leids, ein Klagelied auf etwas das sowohl unausweichlich als auch unfassbar war. Violet weinte nicht. Auch nicht als der Priester seine einsame Rede beendete und der Totengräber mit einer Kurbel den Sarg in dieses finstere Loch niederließ, in dem bereits ihre Mutter lag. Sie war zu keiner einzigen Gefühlsregung fähig, nicht äußerlich. Aber in ihrem Herzen spürte sie die klaffende, tiefe Wunde des Verlustes mit aller Härte und sie schämte sich dafür, dass dieses Leid nicht ihrem toten Vater allein sondern auch ihr selbst galt. Ja, ihre Seele zermürbte bei dem Gedanken alleine hier zurückgelassen worden zu sein, war sogar wütend auf ihre Eltern, dass sie dies so einfach zuließen. Doch auch der Hass galt nicht alleine ihren Eltern, sondern wandte sich auch gegen sie selbst. Sie wollte sich nicht selbst bedauern, ihren Eltern nichts vorwerfen, für dass sie nichts konnten. Doch Gefühle ließen sich nicht einfach abstellen. Zumindest nicht innerlich.
„Die Tür des Herren ist immer offen, mein Kind", meinte der Priester freundlich, schenkte ihr ein kleines Lächeln und entfernte sich dann von der Beerdigung, der nur Violet beigewohnt hatte.
Naja.
Sofern man Nicolas, der einige Gräber entfernt in respektvollen Abstand zu ihr wartete nicht mit dazu rechnete. Doch er war ja auch nicht wegen der Beerdigung hier, sondern ihretwegen. Zumindest vermutete Violet dies, obwohl sie nicht vorhatte das herauszufinden.
Der Sarg war in der Grube angekommen, die Friedhofshelfer bauten die Ablassapparatur ab und beachteten Violet gar nicht, als sie damit begannen die Erde wieder in den Boden zu füllen. Sie konnte nicht sagen, ob ihre Ignoranz einfache Professionalität oder Wut war, weil sie so spät abends mitten im Regen noch arbeiten mussten. Aber das war auch egal, der Priester hatte sich weder über das eine, noch das andere beschwert, also schien es in Ordnung zu sein. Sofern das überhaupt eine Rolle spielte.
Noch einige Minuten starrte sie eingefroren auf das Loch, was sich langsam wieder schloss, während ihre Schuhe langsam immer tiefer im Schlamm versanken. Sie hatte nicht wirklich ein passendes Outfit für eine Beerdigung. Eine dunkle Hose und ein schwarzer Pullover, über dem ein kurzer grauer Mantel lag, waren das Einzige gewesen, was sie für den heutigen Abend in ihrem Kleiderschrank gefunden hatte. Bei der Beerdigung ihrer Mutter war sie besser gekleidet gewesen. Ihr Vater hatte sie in ein schwarzes, locker fallendes Kleid gezwungen und ihre Haare zu einem langen Zopf geflochten bevor er mit ihr an der Hand an das Grab ihrer Mutter getreten war. Diesmal hatte es niemanden gegeben, der sie aus dieser kalten Trance hätte wecken können, um ihr zu zeigen, wie man sich angesichts solcher Tragödien richtig verhielt. Das Kleid noch einmal zu tragen war für sie unmöglich gewesen. Alles in ihrem Kopf hatte sich dagegen gewährt mit diesen Erinnerungen konfrontiert zu werden, das alles noch einmal zu durchleben. Sie wollte ihr Herz vor dem Schmerz verschließen, es einmauern und nicht zulassen, dass es sie zerstörte, doch es ging nicht.
Sie litt.
Sie weinte.
Sie fühlte.
Innerlich. Während ihr Gesicht sich nicht traute seine versteinerte Miene aufzugeben. Ein kleiner Riss könnte die Maske komplett einreißen. Das durfte nicht passieren. Nicht so. Nicht hier. Nicht vor ihm.
Sie würde es aushalten, vor allem jetzt wo er sich ihr mit bedächtigen aber unaufhaltsamen Schritten näherte. Sie spürte ihn mehr als sie ihn mit ihren gewöhnlichen Sinnen wahrnahm. Wie Spinnenfäden juckte seine Anwesenheit auf der Haut und sie widerstand der Versuchung, sich an den Armen zu kratzen um dieses Gefühl abwerfen zu können.
Als wäre sie allergisch gegen ihn. Violet heiterte dieser Gedanke tatsächlich auf und ein bitteres Grinsen huschte über ihre Mundwinkel bevor sie ihn ansprach, ohne sich nach ihm umzudrehen.
„Du hast nicht mal den Anstand mich trauern zu lassen. Wie ein verdammter Geier ziehst du deine Kreise um mich und spielst mit mir und meinem Leben. Ist es das was du willst? Quälen? Macht dir das Spaß? Macht es dich an?" Sie wollte ihn noch mit weiteren Beleidigungen und Unterstellungen begegnen. In diesen Moment konnte sie einen richtig guten Streit vertragen. Doch wie immer wenn Violet in so einer Stimmung war und versuchte ihn als Prellbock ihrer Gefühle zu benutzen, blieb seine Miene regungslos und seine Stimme samtweich als er antwortete:
„Steig in den Wagen, Violet", befahl er ihr knapp und ohne auch nur zu blinzeln. Violet gab einen höhnischen Laut von sich. „Du bist ein Monster, ich habe gerade meinen Vater beerdigt und du tauchst hier auf und gibst mir Befehle?"
Sie wusste wie er aussah wenn er wütend war, bei den kleinen Auseinandersetzungen vor zwei Wochen hatte sie eine deutliche Demonstration bekommen. Jetzt war er es nicht, was sie noch wütender machte. Trauer und Wut kämpften weiter um die Vorherrschaft und die Trauer durfte nicht gewinnen, denn sonst würde sie zusammenbrechen.
„Geh zum Wagen. Ich sage das nicht noch einmal", beharrte er ruhig und in diesen Moment hätte sie ihn so gerne geschlagen. Stattdessen ballte sie lediglich die Hände und in dem Moment wo ihre Wut kein Ventil fand, um auszubrechen, wurde sie von dem Verlustgefühl überrollt und sie spürte wie heiße Tränen über ihre Wangen liefen. Was sie noch zorniger machte. Ein Teufelskreis.
Um zu verhindern, dass er ihr beim Weinen zusah, stürmte sie an ihm vorbei in Richtung eines teuer aussehenden Models, einer noch teureren Marke. Einen schwarzen BMW in einer schnittigen Form, der eine unaufdringliche Eleganz ausstrahlte. War ja klar, dass ein Mann wie er so etwas fuhr.
Violet riss die Tür der Rückbank auf und ließ sich hinter dem Beifahrersitz in das butterweiche Leder fallen. Den zusammengefalteten Regenschirm stellte sie im Fußraum des Platzes neben sich. Natürlich hätte sie auch auf den Beifahrersitz springen können, aber Violet brauchte Abstand von dem Mann, der nach wenigen Sekunden ebenfalls am Wagen angekommen war und es nicht wagte, ein Kommentar zu ihrer Platzwahl abzugeben.
Nicolas fuhr den Wagen von der Einfahrt des Friedhofes und Violet versuchte ihn zu ignorieren, doch leider juckten ihr so viele Sticheleien auf der Zunge, dass es schwer war sich zurückzuhalten und lange ruhig zu bleiben.
„Er kann also geweihten Boden betreten und reist nicht via Fledermaus. Interessant", blaffte sie ich ihn an, nachdem die Tränen wieder versiegt waren. Der Zorn gewann wieder die Oberhand.
„Warum sollten wir das nicht können?" Er sagte wir und Violet versuchte nicht darüber nachzudenken, wen er mit wir eigentlich genau meinte. Sich und die Anderen, die so waren wie er oder sprach er tatsächlich von sich und Violet? Sie würde sich eher die Zunge herausreißen bevor sie ihn das fragte.
„Weil ich mir ziemlich sicher bin, dass du ein seelenloses Monster bist und dagegen hat die Kirche ja bekanntlich etwas."
„Und was soll das sein? Weihwasser, Gebetspsalmen, Kreuze und Knoblauch? Das Einzige wogegen diese Dinge schützen ist deren eigene Angst." Deren. Die. Die Anderen. Die, die nicht wie die waren, die er mit "wir" meinte. Eigentlich wollte Violet ihm keine Frage stellen, aber seit Jahrzehnten suchte sie nach Erklärungen und er hatte immer geschwiegen. Jetzt war er redselig und sie platzte fast vor Neugierde.
„Ich bin ein Vampir", flüsterte sie und in dem Augenblick wurde ihr klar, dass sie es zum ersten Mal laut ausgesprochen hatte.
„Ja." Bestätigte Nicolas. „Wieso?", fragte sie ebenso leise. Jetzt verfiel er wieder in ein langes Schweigen und die Verzweiflung, die sich daraufhin in Violet breit machte trieb die Trauer wieder an die Oberfläche. Sie schniefte bevor sie eine weitere Frage stellen konnte.
„Wohin fahren wir?" Das ist eine harmlose Frage, eine, die er beantworten konnte ohne wieder zu verstummen. Schließlich würde sie es spätestens dann wissen, wenn sie angekommen waren.
„Wir gehen zum Protektor dieses Gebietes", sagte er knapp und Violet war froh, dass er tatsächlich wieder etwas sagte. Dann musste sie sich nicht mit dem Schmerz in ihrer Brust auseinandersetzen.
„Was ist ein Protektor?"
„Ich nenne sie so. Sich selbst nennen sie Könige, Herrscher, Lord und einige auch Götter. Aber im Kern sind sie alle dasselbe. Sie sind die Stärksten von uns innerhalb eines Gebietes. Sie herrschen über Schwächere und halten die Vampire in deren Einflussgebiet nahe bei sich." Dieser kurze Einblick in diese Welt, die neben der der Sterblichen existieren musste, macht sie noch neugieriger. Plötzlich überschlugen sich ihre Fragen im Kopf.
„Wie viele Protektoren gibt es? Gibt es eine Hierarchie? Welche Gesetze gibt es und haben...."
„Langsam!", fuhr Nicolas dazwischen, als sie drohte sich komplett zu verlieren. Und sein Blick durchbohrte sie durch den Rückspiegel, als sie dennoch kurz den Mund öffnete um noch eine Frage zu stellen. Sie klappte ihn wieder zusammen und wartete gehorsam auf seine Erklärung. Während ihrer Beleidigungen war er nicht wütend geworden, was ihn ärgerte war ungehorsam. Und Violets Streitlust war so plötzlich verschwunden, als hätte man ihr einen Tritt in den Hintern verpasst.
„Es ist nicht mal ansatzweise so glanzvoll wie du es dir vielleicht ausgemalt hast", begann er und lenkte den dunklen Wagen in die noch dunklere Nacht. Sie hatte längst den Überblick verloren, wo sie sich überhaupt befanden. Und wenn sie ehrlich war: Es interessierte sie nicht. Ihr Leben war mit ihrem Vater gestorben.
„Diese Protektorate, wie ich sie nenne, haben keine festen Grenzen. Zwar definieren die Protektoren sie gerne ausgiebig, aber es ist nicht offiziell geordnetes, wie du es gewohnt bist. Es gibt sicher Gebiete auf der Erde, wo nicht einer von uns anzutreffen ist und wo niemand es als sein Eigentum bezeichnet. Protektorate kommen und gehen, verschieben sich, werden aufgerieben und zerteilt, wandern weiter und entstehen neu. Niemand weiß wie viele Vampire es gibt oder wie viele solcher Gebiete. Es gibt keine übergeordneten Gesetze, aber die meisten Protektoren bestehen darauf, dass man sich aus der Welt der Sterblichen heraushält und im Schatten lebt. Das scheint allgemein anerkannt zu sein, wird aber nicht überall kontrolliert. Es gibt viele von uns, die die Mittel haben verborgen zu bleiben, sowohl für die Menschen als auch für die Protektoren." Das war ein wenig ernüchternd, musste Violet zugeben. So unkultiviert und unorganisiert, dass sie ein Bild von wilden Stämmen hatte, die kamen und gingen, wenn sie wollten.
„Wann gilt man als Protektor oder König oder was auch immer?", fragte sie weiter und versuchte zumindest eine Art Hierarchie zu bekommen. Es musste ja eine geben. Doch Nicolass Antwort war wieder unbefriedigend.
„Im Grunde kann sich jeder nennen wie er will, aber in der Regel sind sie eben die Mächtigsten im Umkreis, bis jemand kommt, der Mächtiger ist oder man sich aufspaltet. Sie sind wie wilde Rudel, Violet. Macht ist alles, was zählt. Manche Protektorate sind nur wenige Häuserblocks groß und haben nur drei bis fünf Mitglieder. Sie sind meist sehr gewalttätig und unstrukturiert, allerdings auch sehr herrschsüchtig."
Das war verwirrend. Das klang tatsächlich nicht sehr glanzvoll. Keine Grenzen, keine Hierarchie, keine Ordnung, keine Kultur, keine Gesetze. Eine Bande wilder Kreaturen die machen was sie wollten. Aber etwas anderes war sehr viel wichtiger und das es ihr jetzt erst einfiel, sollte ihr zu denken geben.
„Und der Protektor von hier?", fragte sie weiter und spürte durch den Druck des Sicherheitsgurtes, wie sie sich langsam nach vorne lehnte. Sie wollte nicht in Gesellschaft von Leuten leben, die sich selbst eine Krone aufsetzen und Hof hielten.
„Margareta. Sie nennt die ganze Stadt und ein Großteil des Umlandes ihr Eigentum und herrscht grausam über die nicht mal fünfhundert Vampire, die sie unter ihre Fuchtel gezwungen hat. Aber ihr Reich ist seit vielen Jahrzehnten ungewöhnlich stabil. Es gibt kaum Auseinandersetzungen mit anderen Protektoren und sie lässt die Einzelgänger, die selbst zu mächtig sind, um sich beherrschen zu lassen, in Ruhe."
Violet verengte die Augen. Nicolas kam ihr nicht wie ein Laufbursche vor und sprach definitiv auch nicht wie ein Mann, der unter der Fuchtel von irgendjemand stand.
„Du bist einer dieser Einzelgänger." Das war nicht wirklich eine Frage gewesen. Dennoch nickte Nicolas und sah sie durch den Rückspiegel ernst an. „Ja. Und du bist ab heute mein Zögling."  

Beta: Geany Abc

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Violet (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt