stecken geblieben

12K 410 31
                                    

Kapitel 1

Das monotone Pfeifen der Maschine hatte Violet seit dem ersten Tag fast wahnsinnig gemacht und bereitete ihr Kopfschmerzen, sobald sie das Krankenzimmer betrat.

Vielleicht waren ihre Kopfschmerzen aber auch nicht unbedingt dem hohen, schrillen Ton der Maschine zu verdanken, sondern der einfachen Tatsache, dass hier ihr Vater lag. An Pumpen und Schläuchen angestöpselt als wäre er der Wirt einer außerirdischen Technologie. Ein Wirt, der sie schwach aber mit purer Freude ansah, als sie den Raum betrat und die Schwester hinter ihr die Tür wieder mit grimmiger Miene verschloss.

„Meine schöne Tochter", wisperte der alte Mann, dessen Haar schon vor zwei Jahrzehnten vollständig ergraut und so dünn geworden war, dass man die Altersflecke auf der Kopfhaut sah. Sein Gesicht war zerfurcht von den Sorgenfalten, die Violet selbst zu verantworten hatte und von der ständigen Trauer um ihre Mutter, die bereits vor fünfzig Jahren gestorben war. Doch die Zeit, die bisher vergangen war, spielte keine Rolle- Er trauerte immer noch um sie und vielleicht auch um sein einziges Kind.

„Hi, Dad", hauchte sie leise, nicht ohne sich vorher gründlich im Zimmer umgesehen zu haben um sicher zu gehen, allein zu sein. Wenn ein Mann tief in den Neunzigern sie „seine Tochter" nannte, wurde es mit etwas Glück als verwirrtes Gerede abgetan. Aber eine junge Frau, die einen sehr alten Mann „Vater" nannte, schürte Verdacht und sie würde keine Antworten für diverse misstrauischen Fragen haben.

„Bist du hier, um mir bei meinen letzten Stunden Gesellschaft zu leisten?", fragte er halb im Scherz, so wie er es immer tat, wenn sie zu ihm kam. Seine Sterblichkeit war eine Tatsache und der Tag des Abschiedes rückte unaufhaltsam näher. Doch dieser Tag war nicht heute. Also lächelte sie ihr unverblümtes und breites Lächeln, das ihr nur noch in seiner Gegenwart abzuringen war. Ausschließlich. Denn im Rest ihres Lebens gab es nichts zu lachen. Nie.

„Du übertreibst maßlos, ich bin mir ziemlich sicher, du liegst mir noch ein paar Jahrzehnte auf der Tasche", witzelte sie und setzte sich auf die Kante seines Bettes. Wie immer gluckste er sein dünnes Lachen und legte seine mageren Finger auf ihre.

„Ich bin immer wieder erstaunt, dass du noch genauso aussiehst wie damals. Immer noch. Obwohl ich es ja weiß", murmelte er geheimnisvoll und seine Augen strahlten in diesem blassen dunklen grau, dass auch in ihren Augen zu finden war.

„Wie geht es dir, Vi?", fragte er ehrlich interessiert und als er versuchte eine Hand an ihre Wange zu legen, war er so schwach, dass Violet ihren Kopf nach unten beugen musste, um ihm entgegenzukommen.

„Ich mag die Bar nicht und John noch weniger. Er ist ein Arsch", erzählte sie ehrlich und versuchte nicht daran zu denken, wie es wohl wäre niemanden mehr zum Reden zu haben. Vollkommen allein zu sein.

„Du musst dort doch gar nicht arbeiten", meinte ihr Vater, doch Violet winkte ab. Doch, dass musste sie. Aufgrund der Tatsache, dass sie einfach nicht alterte, war es undenkbar einen normalen Job anzunehmen. Laut ihrer Versicherungsnummer war sie eine über fünfzig Jahre alte Frau. Sie war dazu gezwungen in einer Spelunke für ein Arschloch zu arbeiten, wo man ihr keine Fragen stellte und ihr das Gehalt in einem Briefumschlag übergab. Das selbe galt auch für ihre Wohnung. Ihr Vermieter stellte keine Fragen, nahm das Geld und ging seiner Wege.

Abgesehen davon weigerte sie sich einfach sein Geld zu verwenden.

„Was soll ich denn sonst machen? Ich will nicht von ihm abhängig werden. Ich weiß nicht einmal genau wer oder was er ist." Diese Diskussion hatten sie schon viel zu oft geführt. Das Gesicht ihres Vaters wurde weicher.

„Du weißt genau, was er ist. Er ist wie du."

„Das wissen wir nicht. Er hat es auch nie behauptet." Allerdings nicht weil sie nie gefragt hatte. Wenn Violet ihm Fragen stellte, ignorierte er diese. Dabei wollte sie doch nichts sehnlicher als endlich Antworten darauf zu bekommen, was sie war und was mit ihr passierte. Ihr jugendliches Aussehen war nur eines ihrer Probleme. Schlimmer war ihre immer weiter zunehmende Lichtempfindlichkeit. Sie machte es ihr inzwischen unmöglich den Tag zu genießen und der Durst... Ja, das Schlimmste war der Durst.

Ihr Vater mochte vielleicht Recht haben: Im tiefen Inneren wusste sie, was sie war. Schließlich musste man kein Genie sein um eins und eins zusammen zu zählen. Sie trank Blut, alterte nicht und scheute die Sonne. Sie war ein Vampir.

Und hatte dennoch dafür nie eine Bestätigung erhalten. In jedem verfluchten Vampirroman hatte der Held der Geschichte eine ausführliche Erklärung erhalten. Regeln wurden auferlegt und früher oder später hatte er seinen Platz in dieser Welt eingenommen. Violet hatte diese nicht bekommen, vielleicht auch, weil sie nie hatte herausfinden können warum sie ein Vampir sein sollte. Sie war nie angegriffen worden, hatte keinen Unfall gehabt, sich mit nichts angesteckt und ganz sicher war sie auch nicht die Auserwählte für irgendwas.

Violet hätte es nicht mal mitbekommen, wenn ihr Äußeres nicht einfach eingefroren wäre. Noch bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr hatte sie einfach nur geglaubt gute Gene abbekommen zu haben. Dann war der Hunger erwacht, von einem Moment auf den anderen. Er hatte sich nicht langsam entwickelt, er brach plötzlich aus ihr heraus und sie hatte die Kontrolle verloren. Komplett.

Die Konsequenzen waren mörderisch gewesen.

Die Hand ihres Vaters wurde zittrig, als würde er spüren, dass sie mit den Gedanken an diesen einen Tag zurückdachte an dem sie zum Monster wurde. Der eine Tag an dem sich alles veränderte und an dem sie selbst ihr eigener Albtraum wurde. Sie hatte furchtbares getan und ihr Vater hatte es ihr noch im selben Moment verziehen. Was ihre Gewissensbisse nur noch schlimmer machte.

„Er wartet, bis ich nicht mehr da bin. Er wartet auf den Moment es dir zu sagen." Das glaubte Violet nicht, dafür war er zu kalt, zu distanziert. Sie hatte schon oft in sein perfektes Gesicht gesehen, das nie auch nur die geringste Emotion zeigte und hatte einfach gewusst, dass er nicht freiwillig hier war.

Er hasste es in ihrer Nähe zu sein, ihr Geld und Blut zu bringen. Obwohl sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wie ein Mann mit so einer herablassenden Arroganz sich von jemanden auch nur irgendetwas befehlen ließ. Wenn seine dunkle, tiefe und sündige Stimme auch nur ein Gefühl hätte einfärben können, dann war es Abscheu. Er hatte ihr von Anfang an das Gefühl gegeben etwas Abartiges zu sein und dennoch kam er immer und immer wieder.

Und sie brauchte ihn.  

Beta: Geany Abc

Beta: Geany Abc

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.
Violet (Bd 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt