83. cliffs

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!Triggerwarnung!

Bisschen Deep shit mit nur einem Protagonisten, also keine Liebe etc.

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Schwankend stand ich am Abgrund. Früher hatte ich diese Klippen geliebt. Sie waren mein zweites Zuhause gewesen. Immer, wenn es zu Hause Probleme gegeben hatte und ich weg gelaufen war, hatte ich hier Zuflucht gesucht.

Oft war ich in den vielen Höhlen, die das Wasser in den Stein gewaschen hatte herum geklettert. Einige der Höhlen waren extrem alt und lagen so hoch, dass selbst die Flut sie nicht erreichte. Und einen von diesen Hohlräumen hatte ich zu meinem eigenen kleinen Reich gemacht.

Unbemerkt hatte ich meine alte Matratze vom Speicher geschleppt und sie umständlich auf meinem kleinen Bollerwagen aus Kindertagen bis zur Küste gezogen. Dort hatte ich die Matratze mit einem festen Strick umschlungen und den um meine Hüften geknotet. Und ganz vorsichtig hatte ich mein notdürftiges Bett auf einem kleinen Felsvorsprung ablegen können. Dann war ich hinterher geklettert und hatte die Matratze nach drinnen gezogen und sie in die hinterste Ecke der Höhle geschleift.

Mit immer mehr Gegenständen hatte ich das gemacht, sodass sich in meinem zweiten Zuhause inzwischen ein kleiner Tisch, mehrere Kissen, eine Decke, ein Haufen Konserven, einige Werkzeuge und mehrere Flaschen Wasser befanden.

Ich hatte meine Vorräte immer regelmäßig aufgefüllt und inzwischen verbrachte ich mehr Zeit hier als in der kleinen, schäbigen Fischerhütte, die ich früher mein Zuhause genannt hatte.

Meist Schlich ich mich abends dort hinein, wenn alle schliefen, um etwas aus meinem Zimmer zu holen, mich zu waschen oder etwas Geld zwischen den Sachen meiner Mutter zu hinterlassen.

Immer wieder nahm ich kleine Jobs an, um Geld zu verdienen und irgendwann hatte ich meine Angel von zu Hause hier her mit genommen und auch den Fisch, den ich fing, verkaufte ich.

Eigentlich ging es mir relativ gut.

Doch nach all dem, was in der letzten Woche passiert war, schien meine Welt zusammen gebrochen.

Ich hatte meine Eltern als Kleinkind über alles geliebt. Nie hatte ich geglaubt, jemals weggehen zu wollen, doch kurz nach meinem siebten Geburtstag war die Frau meines Onkels gestorben. Meine Mutter hatte nicht lange dabei zusehen können, wie er tagelang Trübsal blies, kaum etwas aß oder trank und sich immer weiter zurück zog.

Und da sie so ein Herzensguter Mensch war, hatte sie ihren Bruder bei uns aufgenommen. Anfangs gab es wenig Probleme, mein Onkel saß meistens nur in einem Sessel, starrte vor sich hin oder las und redete kaum. Er aß wenig und ich bekam das erste Jahr, in dem er bei uns war eigentlich nichts von ihm mit.

Doch irgendwann begann er, wieder mehr zu reden. Anfangs freute es meine Eltern, doch wir merkten schnell, dass er nicht mehr der lebensfrohe Mensch war, den wir in Erinnerung hatten. Er fing an, zu trinken und schrie mich immer öfter an, ich solle bloß verschwinden und wäre zu nichts nütze.

Anfangs gab ich nichts auf sein Gerede, doch irgendwann fing ich unterbewusst an, ihm recht zu geben. Ich strafte mich selbst für jegliches Versagen, schlug mir zum Beispiel selbst ins Gesicht oder verbot mir für den restlichen Tag, etwas zu essen.

Mir ging es zu Hause immer schlechter, also war ich oft den ganzen Nachmittag lang draußen, wanderte die Klippen entlang oder erkundete das Watt. Dann fand ich die Höhlen in den Klippen und zog dort im Prinzip ein.

Währenddessen verschlechterte sich die Situation zu Hause gewaltig. Meine Eltern stritten sich immer öfter, da mein Vater verlangte, meinen Onkel aus dem Haus zu werfen. Mutter versuchte immer wieder, ihn zu beschwichtigen, doch er hörte nicht auf sie und nahm irgendwann ein Jobangebot in einer Firma außerhalb der Stadt an.

Er kam jetzt nur noch an den Wochenenden nach Hause, trank, schrie und half meiner Mutter kein Stück. Ich versuchte währenddessen, sie finanziell zu unterstützen und tat alles, damit in der Schule niemandem auffiel, wie schlecht es meiner Familie ging.

Und genau heute vor einer Woche war passiert, wovor ich mich immer gefürchtet hatte und was sich eigentlich schon lange angekündigt hatte. Ich hasste mich selbst dafür, es nicht vorhergesehen und verhindert zu haben, doch was passiert war, war passiert und so sehr ich mir auch eine zweite Chance wünschte, ich hatte die erste und einzige verpasst und würde es nie wieder gut machen können.

Mein Onkel war betrunken gewesen. Er hatte irgendwas umgestoßen und meine Mutter hatte ihn genervt angefahren. Seit Monaten musste sie all die Hausarbeiten erledigen, die anfielen und zusätzlich wusch sie Wäsche für Nachbarn und passte oft auf die einjährigen Zwillinge einer Freundin auf, um sich gerade so über Wasser halten zu können, denn ihr Mann verdiente zwar recht gut, gab das Geld aber komplett für sich selbst aus und kümmerte sich nicht um sie.

Meine Mutter war also zurecht gestresst und genervt gewesen und hatte ihren Bruder sehr viel ruppiger behandelt als sonst.

Und daraufhin war dieser völlig ausgerastet. Die Nachbarn hatten wegen dem Lärm die Polizei gerufen, doch die Beamten waren zu spät gekommen. Meine Mutter war schon tot gewesen, als sie eintrafen und meinen Onkel fest nahmen.

Ich hätte es erkennen müssen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es zu diesem Wutanfall kam. Er hätte seine Aggressionen an mir auslassen sollen, nicht an meiner Mutter. Diese perfekte Frau hatte ihn nicht verdient, ich hätte an ihrer Stelle sterben müssen, ich, das nutzlose Kind.

Ich hatte den Tod verdient. Deswegen ließ ich mich jetzt nach vorne fallen.

Unter mir war nur Wasser, das Meer war klar und ruhig. Doch ich wusste, dass sich knapp unter der Oberfläche Felsen befanden, ich hatte sie während der Ebbe aus dem Boden ragen sehen, wie die Zähne eines Monsters.

Ich fiel also auf meinen Tod zu, doch ich verspürte keine Angst, eher Hoffnung. Ich würde eine Welt zurücklassen, die mich weder brauchte noch wollte. Und vielleicht, ganz vielleicht würde ich ja meine Mutter wieder sehen...

OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt