siebenundfünfzig

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Sie trat das Gaspedal bis zum Boden durch und umfasste das Lenkrad völlig verkrampft. Die Scheibenwischer liefen auf der höchsten Stufe, doch selbst das Licht der Autoscheinwerfer reichte nur wenige Meter durch die dicke Schneewand, die sich vor ihr entfaltete. Noch immer fielen die Flocken nämlich zu Boden. Anders als zuvor hatten sie nun jedoch eine traurige, eine schwere Stimmung in sich, nicht zu vergleichen mit der Freude vor wenigen Stunden, die in den Menschen aufgeblüht war.

Sunny war auf dem Weg zu dem Anwesen, in dem sie schon als Kind jede kleine Ecke, wie einen riesigen Palast angesehen hatte. Für eine Fünfjährige wurde allerdings auch eine Kissenburg zu einem traumhaften Schloss. Doch als sie die lange Auffahrt hinaufraste, den Umriss des vertrauten Gebäudes wie einen dunklen Schatten im Hintergrund erkennen konnte, da erwachten die Erinnerungen noch stärker, als sie zu hoffen vermocht hatte.

Sie sah sich selbst mit Taehyung durch die Flure rennen, im Salon auf den Sofas herum springen, mit seinen Freunden den Angestellten kleine Streiche spielen. Sie sah auch ihren ersten Kuss im Rosengarten, zusammen mit Taehyung und hatte auch vor Augen, wie Taeyang erst skeptisch eingestellt gewesen, dann jedoch einfach verzückt war, von der jungen Liebe seiner zwei Liebsten.

Während sie eine Vollbremsung hinlegte, vor dem kleinen Tor und das Fenster etwas herunter ließ, bemühte sie sich unheimlich darum, nicht wieder los zu schluchzen. Sie würde der Frau entgegentreten, mit erhobenem Kinn und wenn es wahr sein sollte, dass Taehyung und Taeyang und generell niemand anderes als sie, sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, dann - was dann?

,,Wer ist da?", rauschte es aus der Sprechanlage und ihre Finger krallten sich noch tiefer in das Leder des Lenkrads.

,,Hier ist Sunhee. Ich werde von Mrs. Kim erwartet."

Die Stimme verstummte, entschuldigte sich kurz und sie fing bereits an zu überlegen, ob sie mit dem Wagen einfach die Zauntore einfahren könnte..? Dann schüttelte sie den Kopf und rieb sich angestrengt durch das Gesicht. Sie handelte unüberlegt, zerstörte wahrscheinlich in wenigen Minuten das, was sie sich über acht Jahre aufgebaut hatte, nur weil sie genug davon hatte, auf die Liebe verzichten zu müssen. Sie hat Fairness gewollt, schon immer. Und die würde sie bekommen, so oder so.

,,Sie können durchfahren", meldete sich die Stimme durch den Lautsprecher kurz wieder und die Tore öffneten sich, Sunny zögerte nicht lange und fuhr auch das letzte Stück der schmalen Auffahrt hinauf, parkte dann vor dem Haus neben einem weiteren Wagen und stieg dann aus. Sie zog sich im Laufen die Kapuze über den Kopf und lief zu der Haustür, die ihr im selben Augenblick geöffnet wurde.

Ein älterer Herr in Uniform ließ sie eintreten und verbeugte sich kurz höflich: ,, Dürfte ich ihnen die Jacke-?"

,,Nein, ich lasse sie an. Bringen sie mich einfach zu Eunjin", unterbrach sie ihn kopfschüttelnd und der Butler presste die Lippen zusammen, nickte und wandte sich dann mit einer einladenden Handbewegung dem Gehen.

,,Folgen sie mir. Sie werden im Salon erwartet."

Sunny schluckte feste und versuchte sich nur auf den Mann vor sich zu konzentrieren, af seinen Rücken oder Hinterkopf zu starren. Denn sie wollte sich nicht umsehen, nicht betrachten wie viel sich verändert oder eben nicht verändert hatte. Sie würde ihren Blick ja nicht einmal zu Boden richten können, auf die dunklen und edlen Dielen, die sich durch das ganze Anwesen und durch jeden Raum zogen, sich in manchen Elementen der Einrichtung wiederfanden. Sie konnte aus ihren Gedanken eine komplette Beschreibung dieses Hauses nieder schreiben und trotzdem wäre sie falsch. Taeyang war tot, Taehyung lebte nicht länger hier. Dieses Haus war nicht mehr Jenes, welches sie damals verlassen, in dem sie Teile ihrer Kindheit gelassen hatte.

ILLUSIONIST || kth.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt