Er würde sterben.
Evan schloss die Augen und wartete, doch die Klinge glitt nicht wie erwartet durch seine Kehle. Nein, sie verschwand plötzlich von seinem Hals. Hektisch drehte der Vampir sich um und sah gerade noch, wie niemand anderes als Dana ihr Messer aus dem Rücken seines Angreifers zog. Ausgerechnet Dana, die sich wohl kaum bemüht hatte, ihre Abneigung ihm gegenüber geheim zu halten, hatte ihm das Leben gerettet. Und mit einem Mal verstand Evan, weshalb Alex mit ihr befreundet war, begriff, wieso er so betont hatte, Dana wäre loyal.
"Gern geschehen!", rief Dana, zwinkerte ihm zu und kämpfte weiter, als sei nichts passiert.
Auch Evan stürzte sich wieder ins Geschehen, aufmerksam versuchte er seinen Vater irgendwo in der Masse auszumachen, doch er sah ihn nicht. Stattdessen entdeckte er jemand anderes, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Schon stürzte der Vampir vor, stieß einen Gegner einfach das dem Weg und rief nach seinem besten Freund: "Clayton!"
Der Angesprochene blickte sich angestrengt um, er sah bereits ziemlich ramponiert aus. Schnitte bedeckten seine Arme, seine Wange war angeschwollen, als hätte ihm jemand die Faust ins Gesicht gerammt und auch an seinem linken Oberschenkel war eine Wunde auszumachen.
"Evan! Was tust du hier?!", rief er fassungslos.
"Das erkläre ich dir später! Du kämpfst auf der falschen Seite! Ich verspreche dir, es ergibt später alles einen Sinn, aber bitte hör auf, uns anzugreifen!"
Clayton wusste, dass sein Handeln töricht und naiv war, doch er kannte Evan sein gesamtes Leben und er vertraute ihm. Und obwohl es ihm widerstrebte, stellte er sich ohne Widerworte Seite an Seite mit seinem Freund gegen seinen eigenen Clan.
Der Kampf dauerte nicht sehr lang, die Vampire waren ihnen trotz der Überzahl unterlegen, doch noch immer konnte Alex Maverick nicht ausmachen. Er war einfach verschwunden. Es gab Opfer auf beiden Seiten, er hatte noch nicht einmal die Zeit gefunden, sich zu vergewissern, dass es seinen Freunden gut ging. Leichen und Verletzte lagen auf dem Boden, einige Vampire flohen zurück zum Hauptquartier des Clans, während andere sich bereits unterwarfen. Doch Maverick selbst war wie vom Erdboden verschluckt. Angewidert hob Alex den Blick von einer roten Blutlache und konzentrierte sich darauf, Evan zu suchen. Er fand ihn schnell, er stand neben einem großen hübschen Vampir, das musste dieser Clayton sein. Als die beiden sich vor seinen Augen fest umarmten, konnte er den kleinen Stich der Eifersucht nicht vollständig ignorieren. Es war albern von ihm, die zwei Vampire waren schließlich beste Freunde und kannten sich ewig, waren laut Evan sogar so etwas ähnliches wie Brüder. Außerdem gab es wichtigeres! Also schluckte Alex das ungute Gefühl herunter, als erstes musste er sichergehen, dass es Raymond, Atticus und Dana an nichts fehlte. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass er alle drei fand, wenn Atticus auch ziemlich schlimm blutete. Er würde wieder gesund werden, das würde nur etwas Zeit brauchen, wie ihm versichert wurde. Beruhigt wandte der Todesfürst sich wieder seinem Freund zu.
"Evan?", er konnte es sich beim besten Willen nicht verkneifen, dem Brünetten demonstrativ den Arm um die Taille zu legen und ihn so an seine Seite zu ziehen.
"Alex! Gut, dass du hier bist, das ist Clayton!", mit dem Kopf nickte Evan zu dem dunkelhäutigen Vampir mit den warmen braunen Augen neben sich.
"Freut mich, dass Eve endlich jemanden gefunden hat!", der junge Mann lächelte und wurde Alex zugegebenermaßen sofort etwas sympatischer.
"Mich auch", grinste er und küsste seinen Freund auf die Wange, "aber deshalb bin ich nicht hier. Hast du eine Ahnung, wo dein Vater hin sein kann?"
"Nein", Evan runzelte die Stirn, "Er war plötzlich einfach weg, ich glaube, er ist abgehauen, als er gesehen hat, dass sie unterliegen..."
Der Todesfürst stöhnte leise aus, sein Gesicht war sorgenvoll verzogen: "Das gefällt mir nicht... Er wird wieder auftauchen, aber dieses Mal müssen wir abwarten..."
"Und was, wenn er nicht kommt?", fragte Evan hoffnungsvoll.
Alex legte den Kopf schief: "Glaubst du wirklich, er würde aufgeben? Das auf sich beruhen lassen? Wir haben nicht nur seinen Clan gespalten, ich hab ihm auch noch seinen Sohn und Nachfolger weggenommen! Dein Vater ist nun wirklich kein Mann, der so eine Demütigung auf sich sitzen lassen könnte!"
"Ja, du hast recht", murmelte Evan resigniert. Alex war bewusst, dass der Brünette die Antwort eigentlich gekannt hatte, aber er wollte sie nicht wahrhaben. Wie sollte man es ihm verdenken? Es ging hier immerhin um seinen Vater, wenn er ihn auch verachtete, er würde immer eine äußerst prägende Person bleiben.
"Wenn du Clayton gefunden hast, wie sieht es mit diesem Magier aus?", fragte Alex und sah sich suchend um.
"Ich weiß nicht, wo er ist... Wahrscheinlich ist er bei meinem Vater", murmelte Evan, er klang alles andere als gut, wie Alex fand. Tatsächlich wirkte Evan auf einmal kränklich und müde.
"Baby? Was ist los? Evan, setz dich hier hin, ja?!", besorgt lotste der Schwarzhaarige seinen Freund auf den Boden.
Langsam sickerten die Ereignisse des Tages in Evans Gehirn. Zwar lag ihm das Töten im Instinkt, dennoch hatte er sich immer dagegen gesträubt. Und jetzt lagen überall Leichen und er trug die Schuld an dem Tod von Einigen. Übelkeit überkam ihm bei dem Anblick und dem Geruch des Blutes. Doch es würde noch mehr Opfer geben, vielleicht würde sogar er selbst eines von diesen sein. Und plötzlich dämmerte ihm, dass er heute knapp dem Tod entronnen sein mochte, doch wer konnte schon sagen, was morgen passieren würde?
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Das Flüstern des Todes
FantasyEs war ein ganz normaler Tag im Leben des Nekromanten Alex Martin, solange bis er einen Schlag auf den Hinterkopf bekam und von Vampiren entführt wurde. Sein Leben als Einzelkämpfer, wie er sich selbst gerne nannte, war vorbei und auf einmal musste...