Dexter's P.O.V.
Draußen regnete es in Strömen. Ich war bereits seit ein paar Stunden wach und hatte doch nichts anderes getan, als zu lesen und aus dem Fenster zu starren. Was tat ich hier überhaupt? Andrew war die Kategorie Mensch, die viel zu gutgläubig war und auch trotz unendlich vielen Gegenbeweisen tief in ihrem Herzen an eine heile Welt glaubte. Vielleicht war ich selbst einmal so gewesen, doch mittlerweile wusste ich es besser. Vermutlich hätte ich einfach gehen sollen, ihn und seine Blauäugigkeit ohne meinen pessimistischen Einfluss weiterleben lassen sollen. Ich wollte wirklich gehen, doch irgendwie konnte ich es nicht.
Seufzend holte ich meine Zigaretten raus, ging zum Fenster, öffnete es und beugte mich soweit raus, dass der Qualm das Zimmer unberührt ließ, ich aber nicht allzu nass wurde. Es fühlte sich unwahrscheinlich angenehm an, einfach entspannt zu rauchen und ich bekam auch sogleich einen klareren Kopf. Es wäre mehr als unhöflich gewesen, einfach so abzuhauen, nachdem ich zumindest eine Nacht weniger auf der Straße hatte schlafen müssen. Andererseits war fragwürdig, was für einen Unterschied es nun machte, ob ich höflich war oder eben nicht. Ich war Dexter, das Problemkind, der Junge, mit den falschen Freunden, der Kriminelle.
Plötzlich ertönte hinter mir Andrews leicht raue Stimme: "Morgen."
Zwanzig Minuten später saßen wir schweigend am Esstisch, der Blonde starrte offensichtlich peinlich berührt durch die Gegend und schien krampfhaft nach einem Gesprächsthema zu suchen. Betrunken war er eindeutig gesprächiger. Irgendwann hielt ich seinen leicht verzweifelten Blick nicht mehr aus und brummte etwas abwesend: "Eure Kentiapalme muss aus der Sonne raus, die ist sonst bald hin..."
"Unsere was?!", fragte er verblüfft.
Ich nickte zu einer mittelgroßen Pflanze mit grünen, zum Teil bereits eher gelblichen Blättern: "Das Teil da ist eine Kentiapalme und die kriegt da zu viel Sonne, also wenn sie scheinen würde zumindest... Die überlebt normalerweise sogar ziemlich gut in dunkeln Ecken im Haus."
Andrew runzelte die Stirn: "Woher weißt du sowas?"
Ich schnaubte: "Na, sowas lernst du im Knast. Das war Lektion dreiunddreißig..."
"Sehr witzig", er verdrehte die hübschen graublauen Augen.
"Warum bist du eigentlich nicht in der Schule?", fragte ich und fügt etwas versöhnlicher hinzu, "Ich kenn mich ein bisschen mit Pflanzen aus, hab als Kind mal jemanden gekannt, der eine Gärtnerei hatte..."
"Ich... Also ich wollte heute einfach nicht hin und meine Eltern sind eh nicht da, ich bin offiziell einfach krank...", murmelte er.
Ich stöhnte auf: "Dann bist du also nicht hingegangen, weil ich hier bin, stimmt's?"
"D-das... könnte auch was damit zutun haben", gab er kleinlaut zu.
Kopfschüttelnd betrachtete ich ihn: "Toll, du kennst mich seit nicht einmal vierundzwanzig Stunden und schon hab ich einen schlechten Einfluss auf dich..."
Kurz dachte er nach, setzte danach ein schiefes Lächel auf, bei dem mir Hören und Sehen verging, und erwiderte: "Aber immerhin hast du mich nicht vergewaltigt!"
Resigniert schüttelte ich meinen Kopf und knurrte leise: "Sei froh..."
Andrew räumte unsere Teller in die Spülmaschine, eine so alltägliche Handlung, dass ich die Szenerie einfach anstarren musste. Es mochte eine Kleinigkeit sein, doch in den letzten vier Jahren hatte ich nicht ein einziges Mal eine Spülmaschine zu Gesicht bekommen, geschweige denn ein so ansprechendes Frühstück zu mir genommen.
"Ist alles okay bei dir?", besorgt blinzelten die blaugrauen Augen mich an.
Ich riss mich zusammen und nickte nur. Auf ausschweifende Erklärungen hatte ich keine Lust, außerdem wurde es Zeit, dass ich mich vom Acker machte. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag griff ich entschlossen nach meiner Jacke: "Also, ich bin dann mal weg!"
Ungläubig sah der blonde Junge mich an, wenn ich ihn mir im Hellen von Nahem so ansah, war er doch gar nicht ganz so dürr, wie er gestern gewirkt hatte. Er war keinesfalls dick, aber schlank und schmal, eigentlich typisch für einen Teenager in der Wachstumsphase. Unwillkürlich fragte ich mich, ob er wohl noch breiter werden würde.
"Bei dem Wetter willst du nach draußen?! Du hast ja nicht einmal eine Kapuze. Das kannst du vergessen, ich lass dich nicht raus, du bist ja spätestens morgen tot, wenn du so raus gehst!", ungewohnte Entschlossenheit schwang in seiner Stimme mit.
Ich wollte sein Argument abtun, schließlich war ich nicht aus Zucker, doch ein Blick in den sintflutartigen Regen gab ihm Recht. Da draußen ging momentan scheinbar die Welt unter. Ich hatte die Wahl, wollte ich lieber in das Inferno nach draußen oder hier bleiben und Andrews Gesellschaft genießen, die mir etwas zu sehr zusagte. Die Entscheidung fiel mir nicht besonders schwer, wenn ich doch, allein schon um meine Würde zu behalten, antwortete: "Na gut, aber wenn der Regen weniger wird, bist du mich sofort los..."
Der Blonde grinste breit und sparte sich seine Antwort. Seufzend fragte ich: "Wie alt bist du eigentlich?"
Verblüfft sah er mich an, mit der Frage hatte er scheinbar nicht gerechnet, zumindest nicht in diesem Moment, aber mir brannte sie bereits seit gestern auf der Seele: "Ähm... Ich bin siebzehn."
"Siebzehn...", murmelte ich leise. So alt war ich gewesen, als ich ins Gefängnis gekommen war. Naja, zumindest biologisch gesehen, psychisch war ich wohl damals schon wesentlich älter gewesen.
"Und du?", fragte er nach einer Weile.
Verwirrt blickte ich auf: "Was?"
Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen: "Wie alt bist du?"
Etwas verlegen räusperte ich mich: "Einundzwanzig."
Andrew schwieg einen Moment lang, zögerlich brach er die Stille: "Erzählst du mir jetzt, wieso du ins Gefängnis musstest?"

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Dexter Jones
JugendliteraturDexters Leben war noch nie einfach, doch als der Einundzwanzigjährige nach vier Jahren aus dem Gefängnis kommt, scheint er am Tiefpunkt angekommen zu sein. Perspektivlos wie er ist, versucht er sich über Wasser zu halten. Doch seine Lage verändert s...