27 -Leben und Sterben-

606 46 1
                                    

Dexter's P.O.V.

Ich brauchte nicht einmal Andrews Gesicht zu sehen, um festzustellen, dass irgendetwas nicht stimmte.

"Hey", sagte er bemüht unbekümmert und drehte den Kopf leicht weg.

"Was ist passiert?", meine Stimme klang forscher, als ich es beabsichtigt hatte. Um den Effekt etwas abzumildern, drückte ich mit dem Zeigefinger vorsichtig sein Kinn hoch, sodass er mir ins Gesicht sah.

"Nichts!", die geröteten Augen straften ihn Lügen.

"Lüg mich nicht an! Du hast geweint! Was ist los?"

Andrew schien in sich zusammen zu sinken: "Mir geht's gut... Es ist nichts schlimmes passiert."

"Hast du dich mit Darren gestritten oder so?", fragte ich nun und bemühte mich um einen ruhigeren Ton. Als Antwort bekam ich nur ein Kopfschütteln. Und plötzlich wusste ich es: "War das dieser Wichser von gestern?! Was hat er gemacht?"

"Eigentlich gar nichts..."

"Eigentlich?! Was hat er gemacht? Ich bring ihn um!", rasend vor Wut ballte ich die Fäuste.

"Er... er hat sich entschuldigt. Oder es versucht... Ich weiß auch nicht, weshalb ich geheult hab, es war einfach alles zu viel oder so, aber es ist alles okay", beschwichtigend hob der Blonde die Hände, "Bitte lass uns jetzt die Viertelstunde, die wir noch haben, bevor ich wieder bei meinen Eltern bin, einfach nicht daran denken, okay?"

Geschlagen nickte ich: "Klar..."

"Jetzt komm erstmal her", murmelte Drew leise und zog mich an sich. Er musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um mich zu küssen. Etwas besänftigt lächelte ich bei dieser Erkenntnis.

Der Abschied an der Straßenecke vor Andrews Haus viel schwermütig aus. Es fühlte sich komisch an, nicht mit ihm zu gehen. Viel zu schnell hatte ich mich an das idyllische Leben mit ihm gewöhnt, viel zu schnell vergessen, wer ich eigentlich war. Doch spätestens als ich im Park saß und gerade im Begriff war, in meinen Apfel zu beißen, wurde ich schmerzhaft daran erinnert. Ein Schrillen ließ mich zusammenfahren. Es dauerte ziemlich lange, bis ich bemerkte, dass der ätzende Ton aus meiner Jacke drang und noch viel länger bis ich verstand, dass das Handy, das Helena mir gegeben hatte, für den Krach verantwortlich war.

"Ja?", ich war verwirrt, sie hatte doch ausdrücklich von SMS gesprochen.

"Jones?", fragte eine dunkle Stimme. Scheinbar ein Mann und offensichtlich nicht Helena.

"Kommt drauf an. Wer ist denn da?", genervt griff ich in meine Jackentasche, um mir eine Fluppe anzuzünden, musste allerdings feststellen, dass ich meine Zigaretten ja Andrew zur Liebe vernichtet hatte. Nicht gerade förderlich für meine Geduld an diesem Tag...

"Ein Freund."

"Okay, Freund. Was willst du?", wie ich solche Spielchen hasste!  

"Helena lässt ausrichten, du sollst dich übermorgen abends bereithalten."

Misstrauisch runzelte ich die Stirn: "Warum meldet sie sich dann nicht selbst? Und warum nicht wie abgesprochen?"

"Mir gefällt, wie du denkst... Wir sehen uns dann übermorgen!", die Verbindung war weg. 

Das ganze Ding wurde meiner Meinung nach ziemlich heiß. Es beunruhigte mich, dass ich nicht Helenas Stimme gehört hatte. Ich durfte jetzt keinen Fehler machen, musste aufpassen. Aber ich brauchte auch das verdammte Geld...

In dieser Nacht wurde es kalt und stürmisch. Als der erste Blitz am Himmel zuckte, setzte ich mich gerade auf die wenig komfortable Bank eines immerhin überdachten Bushaltestellenhäuschens. Der Regen prasselte laut, so laut, dass ich meinte, meine eigenen Gedanken nicht mehr zu hören und doch wurde er noch vom Grollen des Gewitters übertönt. Zu meinem Glück hatte ich nur wenige Tropfen abbekommen, war also trocken. Nichtsdestotrotz fror ich. Verärgert dachte ich darüber nach, dass ich im Hauseingang eines der verlassenen Gebäude im Bahnhofsviertel wohl besser aufgehoben gewesen wäre. Dort war man schließlich windgeschützt. Aber jetzt wollte ich nicht mehr gehen und mich der Nässe ausliefern. Ich versuchte mich ein wenig mit dem Gedanken zu trösten, dass ich hier wenigstens allein war und mir meinen Unterschöpf nicht auch noch teilen musste. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zurück und ich dachte an Sammy. Mit ihm hätte ich gerne hier gesessen. Mit ihm hatte ich überhaupt überall gerne gesessen. Es war nicht fair, dass er tot war, während ich lebte, aber so war das mit dem Leben. Es war nicht fair, es machte keinen Sinn und manchmal quälte es einen so sehr, dass man meinte, es sei eine Strafe zu leben. Ich hatte mich oft gefragt, was wohl nach dem Leben kam. "Gleich sind wir nur im Tod", hatte Sammy manchmal gesagt, wenn ich mich über irgendwelche Ungerechtigkeiten beschwert hatte. Jetzt fragte ich mich, ob er damit wohl recht hatte. Ich war kein gläubiger Mensch und sicher glaubte ich auch nicht an Himmel und Hölle.
Aber was kam dann nach dem Leben? War Sammy einfach weg?
Ich wusste es nicht und um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal, was ich mir für ihn wünschen sollte. Vielleicht wäre es ja besser, wenn man das ganze Elend nicht auch noch im Tod ertragen musste.

Als endlich der Morgen graute, rieb ich mir die müden Augen, streckte meine schmerzenden Glieder und stand gähnend auf. Immerhin würde ich auch mit Schlafentzug hoffentlich auf Andrews Gesicht ein Lächeln wecken können, wenn ich ihn abholen kam. 




Hallo ihr Lieben! :)

Wie gefällt euch die Geschichte bis jetzt? Lasst mir doch gerne mal eine Meinung da!

Bis dann, eure c_in_medias_res<3     

Dexter JonesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt