Kapitel 1

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Vorsichtig zog ich mich weiter nach oben. Dabei achtete ich peinlich genau darauf, kein Geräusch von mir zu geben. Ich zog meinen linken Fuß wieder ein Stück nach. Er kam auf die linke Seite der Wandhalterung der Regenrinne. Ich griff wieder um, bevor ich meinen rechten Fuß auf die Höhe des Linken setzte. Damit stand ich nun hoch genug, um mich auf das Fensterbrett zu stellen. Ich sah mich noch einmal um.
Die Dunkelheit verschluckte mich voll und ganz. Keine neugierigen Blicke würden mich hier entdecken. Mal abgesehen davon, dass um diese Uhrzeit niemand wach war, der mich hier entdecken könnte. Nachtschwärmer verirrten sich nicht hierhin, für Frühaufsteher war es eindeutig zu früh. Wir hatten gerade einmal 4:30 Uhr, doch trotz allem würde in zehn Minuten die Wecker in dem Gebäude, in das ich gerade einstieg, losgehen.
Anscheinend gehörten Nonnen nicht zu menschlichen Wesen, sondern bildeten eine eigene Spezies. Ihre Schützlinge mussten natürlich mit ihnen aufstehen. Es reichte auf gar keinen Fall, wenn wir zum Frühstück aufstanden, nein, wir durften das morgendliche runterrasseln der Bibel auf gar keinen Fall auslassen.
Gott hatte uns hier in seinen heiligen Hallen aufgenommen, dafür mussten wir ihm 24 Stunden am Tag dankbar sein. Ich fragte mich nur jedes Mal, welcher Gott es war, der unsere Dankbarkeit immer unbedingt haben wollte.
Ares konnte ich schon einmal ausschließen. Der Gott hatte mir mehrfach versichert, es reichte ihm, wenn ich nach einer Trainingseinheit mal wieder vor ihm kniete. Leider war der Kriegsgott doch ein wenig stärker als seine kleine Kriegsnymphe, weshalb es eigentlich immer darauf hinauslief, dass ich auf die Matte ging.
Mittlerweile stand ich sicher auf dem Fensterbrett. Vorsichtig öffnete ich das Fenster, welches zu meinem Schlafsaal gehörte. Die anderen Mädels hatten mich glücklicherweise nicht ausgesperrt. Allerdings hätte ich notfalls einfach meinen Eingang aufgebrochen.
Die Zimmer waren nicht unbedingt darauf ausgelegt Einbrecher fernzuhalten. Allerdings gab es auch nichts, was man hier hätte klauen wollen. Vier alte Hochbetten standen verteilt an die linke und rechten Wand des Raumes. Von den Metallstreben blätterte die schwarze Farbe langsam ab, weshalb nun weiße darunter sichtbar wurde.
Zwischen jeweils zwei der Betten, welche an der gleichen Wand standen, waren dünne, abschließbare Schränke aufgestellt worden. Wir, das hieß ich und meine Mitbewohnerinnen, bewahrten dort unsere wenigen Wertgegenstände auf. Obwohl Wertgegenstände relativ war. Die meisten Dinge hatten einen persönlichen Wert. Irgendwelche Dinge, welche die anderen auf gar keinen Fall in die Finger kriegen sollten. Sei es nun eine Tafel Schokolade oder ein Erinnerungsstück an die ehemalige Familie.
Unter den Betten konnte man Schubladen herausziehen. Unter jedem Hochbett zwei Stück, in dem die Freizeitkleidung von uns aufbewahrt wurde, in der wir uns am Wochenende außerhalb dieser Einrichtung bewegten. Allerdings war es nicht möglich, die ungefähr einen Quadratmeter großen Schubladen gleichzeitig herauszuziehen. Der ungefähr 1,50 m breite Gang zwischen den Hochbetten ließ es einfach nicht zu.
Mehr als diese wenigen Dinge waren in dem Raum nicht zu finden. Die Schulsachen wurden im Studienzimmer aufbewahrt, wo wir zwischen dem Nachmittagsunterricht und dem Abendgebet unsere Hausaufgaben machten. Dort hatte jeder noch einmal ein Fach, welches gerade für die Schulsachen reichten. Unsere normalen Schuluniformen, die wir täglich trugen, wurden in dem Waschraum aufbewahrt. Dort hatten wir noch einmal alle ein schmales Regal, wo wir unsere Zahnbürsten, Shampoo, Zahnpasta, Handtücher und nun einmal auch eine Schuluniform aufzubewahren hatten.
Nachmittags nach dem Unterricht gingen immer ein Paar von uns Waisenkindern herum und hingen neue, saubere Uniformen für den nächsten Tag in die Schränke. Vor dem Schlafengehen wurden die dreckigen Uniformen in mehreren Wäschekörben gesammelt und dann am nächsten Tag in die Wäscherei gebracht.
Leichtfüßig kam ich auf dem Boden auf. Ich striff meine Schuhe von den Füßen und verstaute sie an ihrem vorgesehen Platz. Danach zog ich meine Klamotten aus. Der dünne, schwarze Pullover, welcher mir eigentlich eine Nummer zu groß war. Die schwarze Hose, welche unten schon ganz ausgefranst war. Ich schmiss beides in meine Schublade herein. Stattdessen zog ich meinen Schlafanzug heraus, welchen ich überzog.
Ich hatte gerade die Schublade zugemacht, als die Glocken anfingen zu läuten. Zeit aufzustehen. Die anderen sieben Mädchen im Schlafsaal murrten.
„Irgendwann demontiere ich noch diese scheiß Glocke", hörte man aus dem Bett über meinem.
„Frag Rona. Die klettert doch ständig irgendwo mitten in der Nacht rum." Ständig war übertrieben. Nur jedes Mal an Vollmond. Auch heute schien der helle Mond durch das Fenster herein. Ich hatte vergessen, die Vorhänge wieder zu zuziehen. Doch das war jetzt egal. Gut gelaunt öffnete ich das Fenster, weshalb die kühle Nachtluft wieder in den Raum kam und bekam als dank ein Kopfkissen nach mir geworfen. Ich fing das Kissen problemlos ab, bevor mein Kopf erwischt wurde.
„Zeit, aufzustehen!", flötete ich gut gelaunt. Ein weiteres Kissen versuchte, mich zu treffen, allerdings wehrte ich auch dieses problemlos ab. Ich warf es stattdessen dem Besitzer wieder ins Gesicht.
„Demontierst du diese blöde Glocke jetzt oder nicht?"
„Ist eine Überlegung wert. Ich will morgen früh auch nicht von dem Mistding geweckt werden." Außerdem war ich nun schon viel zu lange in diesem Heim. Am Ende würde ich noch sesshaft werden. Wenn ich die Kirchenglocke am Schlagen hindern würde, hätten die Nonnen mit Sicherheit endlich genug von mir. Obwohl sie bisher eine Menge Geduld gezeigt hatten. Sie meinten immer, ich wäre eine ganz besondere von Gott gegebene Herausforderung. Einer der wenigen Dinge, bei denen ich ihnen zustimme. Die Fähigkeiten, die mich zu der Person machten, die ich nun einmal war, waren mir von dem Kriegsgott gegeben worden. Doch eigentlich hatte ich schon einen ganz anderen Plan, wie ich aus diesem Gemäuer verschwinden konnte.
Ich öffnete die Zimmertür, welche auf den Flur führte. Die Klinke hätte ich fast der Schulsprecherin, die dafür sorgte, dass wir jeden Morgen brav alle aufstanden, in den Magen gerammt.
„Mache die Türen vorsichtiger auf, Rona Maria Smith! Seid ihr alle wach?"
„Man kann die scheiß Glocke kaum überhören, Sarah", hörte man drinnen eines der Waisenmädchen rufen.
„Nicht solche Ausdrücke nutzen, Abigail Crawford!"
„Mein Gott, dann –"
„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen!" Ich verdrehte die Augen. Mit solchen Bibelzitaten war die Schulsprecherin bei meinem Zimmer wirklich an falscher Stelle.
„Wer sagt das?"
„Unser Herr."
„Und warum sollte ich auf ihn hören?"
„Weil er nach unserem Tod über uns richten wird." Diese Diskussion konnte noch dauern. Ich ließ die streitenden Mädchen hinter mir zurück, um mir im Waschraum ein Waschbecken zu sichern, bevor der große Ansturm losging.

Hexagramm - SchlangenbrutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt