Kapitel 27

394 26 0
                                    

Es klopfte an der Tür. Neugierig drehte ich mich dahin um. Ich war doch ein wenig gespannt, wie meine neuen Klassenkameradinnen so waren.
„Sie können eintreten." Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht laut loszulassen. Jeder normale Mensch würde einfach stumpf „herein" rufen, doch der Schulleiter ließ die Leute mit den Worten: „Sie können eintreten" in sein Reich. Eine wirklich komische Formulierung.
Die Tür schwang auf, weshalb zwei Mädchen in meinem Alter zum Vorschein kamen. Beide, nach ihren Schuluniformen und der Tatsache unseres Aufenthaltsortes zu urteilen, Schülerinnen an dieser Schule, doch mehr Gemeinsamkeiten hatten sie nun wirklich nicht.
Die Linke, von mir aus gesehen, sah genauso aus, wie man sich ein reiches Vorstadtmädchen aus England so vorstellte. Ihre Haarfarbe war der meinen nicht ganz unähnlich. Nur ein wenig heller. Auf den ersten Blick konnte ich nicht erkennen, ob sie, wie die meinen gefärbt worden waren oder ob sie diese Haarfarbe wirklich hatte. Jedenfalls war kein Ansatz zu sehen, was eher für die Echtheit des Farbtons sprach.
Die Haare waren zu einem ordentlichen, strengen Dutt zusammengebunden, welcher mit einer Schleife umwickelt war. Durch diese Frisur wurden die glitzernden Ohrringe nur noch mehr betont. Ein passender Ring glitzerte auch noch an ihrer Hand.
Ihr ganzes Outfit wirkte so, als hätte sie sich gestern sehr lange damit beschäftigt, was sie heute anziehen wollte. Ein breites falsches Lächeln zierte ihr Gesicht. Offensichtlich gab sie sich wirklich Mühe, so auszusehen, als würde sie sich über die aktuelle Situation freuen, doch ihre Augen verrieten sie eindeutig. Obwohl sie eigentlich braun und damit von Natur aus eher warm wirkten, konnte man die eisige Kälte in ihren Blick sehen, welcher gerade genauso kritisch meine Adoptiveltern und mich musterten, wie es der meine bei ihr tat.
Der komplette Kontrast dazu war ihre Begleiterin. An ihr deute nichts auf ein Leben in einer schönen, reichen Vorstadt hin. Stattdessen wirkte sie wie das, was sie wahrscheinlich war. Eine Einwanderin aus einem wesentlich sonnigeren Land als England.
Ihre Haut war gut gebräunt. Die schwarzen Haare waren zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden worden. Nur ihr Pony hing heraus, welcher kurz über ihren Augen endete.
Auch sie trug Ohrringe, doch diese waren eindeutig billiger Modeschmuck. Dadurch nicht weniger hübsch, doch es passte nicht in diese teure Umgebung. Auch ihre Kleidung wirkte ein wenig widersprüchlich.
Die Schuluniform war eine von den für diese Schule Typischen. Sie wirkte genauso teuer und hochwertig wie alle hier. Ein kompletter Widerspruch dazu waren die günstigen, ausgelatschten Schuhe. Die Strumpfhose an der sich eine Laufmasche gebildet hatte und die Schultasche, welche mit Sicherheit auch schon besser Zeiten erlebt hatte, passten ebenfalls nicht zu der teuren Schuluniform.
Die junge Mexikanerin wirkte in dieser Umgebung genauso fehl am Platz, wie ich mich momentan fühlte. Doch anders als bei dem linken Mädchen, waren ihre Augen voller Wärme, aber auch ein wenig Misstrauen und Angst vor mir und meinen Eltern. Ihr Lächeln wirkte trotz allem wesentlich ehrlicher.
„Erfreulich, dass sie pünktlich sind, Miss Armenta Valencia und Miss Haynes. Dies hier ist die junge Miss Cunningham." Es wurde auf mich gezeigt. Meine Mutter sah mich auffordernd an. Anscheinend sollte ich aufstehen, um die beiden Mädchen richtig zu begrüßen. Leise seufzend kam ich der stillen Aufforderung nach.
„Hey." Ich versuchte, ein Lächeln zu Stande zu bringen, allerdings hatte ich eigentlich keine Lust auf die Gespräche, die mit Sicherheit gleich folgen würden.
„Hey, ich bin Jo." Die junge Mexikanerin hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie ziemlich zögerlich. Ab heute Nachmittag würde das alles hier wahrscheinlich im vollkommenen Chaos enden.
„Guten Tag, Charlotte. Ich bin Eleanor. Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen." Die Blondine schob die andere Schülerin bei Seite, um mir ihre Hand hinzuhalten. Auch diese schüttelte ich leicht.
Ich folgte den beiden Mädchen durch die Schule. Meine Augen musterten alles um mich herum, versuchten möglichst viele Details aufzunehmen, damit sich mein Gehirn das alles einprägen konnte.
Genauso aufmerksam, wie ich mir die einzelnen Wege einprägte, mit jeder Möglichkeit mich irgendwo zu verstecken, das Schulgebäude zu verlassen oder auch nur Dinge, welche man im Notfall als Waffe verwenden konnte.
Ares platzte wahrscheinlich voller Stolz, weil ich meine Umgebung so genau unter die Lupe nahm. Er hatte sich oft beschwert, dass ich bei solchen Dingen gerne zu nachlässig war. Das erste, was ich machen sollte, war mir diese drei Dinge einzuprägen. Vielleicht machte mich Ares und die Tatsache, dass mittlerweile mein vermeintlicher Massenmördervater und auch noch die PIRA hinter mir her waren, vielleicht doch ein wenig paranoid.
Genauso aufmerksam, wie ich meine Umgebung beobachtete, betrachtete ich auch die anderen Menschen um mich herum. Jo lief die ganze Zeit stumm neben uns her. Sie schien genauso wenig Lust auf dieses Gespräch zu haben wie ich. So freundlich sie auch am Anfang gewesen war, als Eleanor mich gekrallt hatte und ich mich nicht dagegen wehrte, schien sie sämtliche Sympathie für mich zu verlieren. Sie sprach die meiste Zeit einfach gar nicht. Falls sie es mal tat, merkte man, sie fühlte sich dabei unwohl. Wahrscheinlich wartete sie auf den Moment, in dem ich anfing sie unterschwellig zu beleidigen, genauso wie es die Blondine die ganze Zeit tat.
„Auf dieser Schule sind sehr viele Kinder aus sehr gutem Haus. Die meisten haben berühmte Eltern. Hier wird sehr viel Wert auf gute Noten und gutes Benehmen gelegt. Diese Werte werden von einem guten Elternhaus mitgegeben. Ach ja, und pro Jahrgang gibt es natürlich den einen Stipendiaten. Ich habe, gehört du tanzt Ballett, Charlotte. Dies tue ich auch. Wenn du Lust hast, kannst du dich später zu mir und meinen Freundinnen gesellen. Wir tanzen alle Ballett."
„Und nehmt ständig an irgendwelchen Schönheitswettbewerben teil. Um allen zu zeigen, welche Werte ihr vertretet."
„Jocabed Xóchitl, diese Bräuche sind Mexikanern vielleicht nicht bekannt, doch in England sind es durchaus angesehene Veranstaltungen." Ich verdrehte leicht die Augen. Eleanor hatte mit Sicherheit nicht ganz unrecht. Der Trend mit den Schönheitswettbewerben machte sich gerade in der Oberschicht breit. Doch man konnte nicht behaupten, dass wirklich Werte mit diesen vermittelt wurden. Jedenfalls keine, die man irgendjemand vermittelt sollte.
Diese Wettbewerbe waren nur eine oberflächliche Betrachtung von Frauen und Mädchen. Da hatten Frauen jahrelang für Frauenrechte gekämpft und unsere Generation machte sich dann freiwillig zum Objekt. Eine wirklich enttäuschende und traurige Entwicklung.
Es klingelte zum Ende einer Stunde. Man hörte, wie in den Klassenräumen an denen wir vorbeigingen, Stühle verrückt wurden. Auch ein leises Murmeln verschiedener Stimmen war zu hören.
„Wir haben als Nächstes Englischunterricht", wurde mir mitgeteilt. Ich nickte abwesend. Das fing doch schon mal gut an. Als Allererstes hatten wir ein Fach, in dem man ausschließlich lesen musste. Eigentlich hatte ich gehofft, wenigstens einen Tag in der Schule ohne große Probleme zu überstehen. Doch anscheinend war mir das nicht möglich.
„Was macht ihr gerade in Englisch?"
„Wir nehmen momentan Gedichte durch. Heute sprechen wir über The Tyger von William Blake. Kennst du das Gedicht?" Ich schüttelte den Kopf. Natürlich kannte ich es nicht. In den Waisenhäusern hat man uns Bibelverse auswendig lernen lassen. Englische Dichtkunst war laut Lehrplan noch nicht relevant gewesen, also hatten wir uns noch nicht damit befasst gehabt. In Hogwarts war die einzige Dichtkunst, über die man sprach, in der Samstagsausgabe des Tagespropheten zu finden, und dann handelte es sich immer um etwas Satirisches.
Ich hatte also rein gar nichts, was mir irgendwie helfen konnte, auch nur meine erste Unterrichtsstunde zu überstehen. Nicht einmal Ares konnte mich unterstützen. Schließlich wurde ich gerade von zwei meiner Klassenkameradinnen geradewegs zum Unterricht geschleift. Mal abgesehen davon, dass ich wenigstens eine Kopie von dem Gedicht bräuchte, damit Ares es mir vorlesen konnte.
Also würde ich wohl schon jetzt in der allerersten Unterrichtsstunde mehr als nur ein bisschen negativ auffallen, weshalb ich mich heute Abend wohl auf einen mächtigen Streit mit meinen Adoptiveltern und Nymphedora einstellen konnte.
Wir kamen an einer geöffneten Klassentür an. Drinnen hörte man noch das leise Gemurmel mehrer Schüler. Vorne stand schon ein älterer Mann. Seine Haare waren schon ganz ergraut. Tiefe Lachfalten zierten sein Gesicht, weshalb er irgendwie sympathisch wirkte.
Mit seiner Brille auf der Nase und dem altmodisch wirkenden, olivgrünen Anzug erinnerte er mich an einen alten Literaturprofessor, welchen ich immer mal wieder mit Jamie in einem Museum getroffen hatte. Er hatte uns sehr oft interessante Geschichten erzählt. Jedenfalls bis sie die Lücke in ihrem Sicherheitssystem geschlossen haben und wir uns nicht mehr heimlich hereinschleichen konnten.
Meine Lösung des Problems einfach den Eintrittspreis mit Taschendiebstahl zu finanzieren, kam bei meinem Komplizen nicht so gut an. Irgendwie war Jay Jay ein wenig moralischer als ich, was dieses Thema anbelangte.
Doch ich fürchte dieser Kerl mit grünem Anzug und Brille wollte mir nicht nur irgendwelche Geschichten erzählen, sondern würde ziemlich schlechte Laune kriegen, wenn ich meine Hausaufgaben nicht machte. Wahrscheinlich noch wütender als alle Lehrer in Hogwarts zusammen.
Der Lehrer sah von seiner Tasche auf. Sein Blick glitt zur Tür, durch die gerade Eleanor trat.
„Guten Tag, Professor Davidson."
„Guten Tag, Miss Haynes." Der Blick des Lehrers glitt zu mir. Ich stand noch immer vor der Tür und musterte alle Leute, die von dieser Position aus in meiner Sichtweite waren.
„Und ihre unbekannte Begleiterin muss dann Miss Cunningham sein. Sie dürfen sehr gerne hereinkommen." Ich wurde freundlich angelächelt, doch auch bei dem Professor blieben die Augen dabei kühl. Wann ich an dieser Schule wohl mal das erste echte Lächeln sehen würde.
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte in den Raum herein, sodass ich nun die ganze Klasse sehen konnte.
„Ihnen wurde schon in den letzten paar Tagen mitgeteilt, dass eine neue Schülerin an dieser Schule aufgenommen wird. Dies hier ist Charlotte Cunningham. Wollen sie sich vielleicht vorstellen?" Ich hatte befürchtet, diese Aufforderung würde kommen. Ich hatte sie schon oft gehört, meistens als Frage getarnt.
Doch bisher hatte ich immer mit nein geantwortet, nur um mich im nächsten Moment in den letzten Winkel des Klassenraums zu verziehen. Von dort aus starrte ich dann alle böse an, damit mich niemals jemand ansprach. Hatte bei Jamie nicht funktioniert, aber dieses ansonsten sehr erfolgversprechende Konzept würde ich hier wahrscheinlich eh nicht anwenden können. Meine Adoptiveltern würde das überhaupt nicht gefallen und ich würde ihnen schon genug Angriffsfläche in den nächsten Tagen bieten. Da musste ich ihnen nicht noch einen weiteren Grund geben.
„Hallo, zusammen. Ich bin Charlotte und anscheinend jetzt in eurer Klasse." Ich sah den Lehrer fragend an. Reichte ihm das wohl als Vorstellung?
„Woher kommen sie Miss Cunningham?"
„Ich war erst beim Schuldirektor und dann haben Jo und Eleanor mir die Schule gezeigt." Ich wurde verwirrt angesehen. Anscheinend hatte ich nicht die Antwort gegeben, wie der Professor erwartet hatte. Dabei konnte ich doch nichts dafür, wenn sich der Lehrer unklar ausdrückte.
„Wenn sie wissen wollen, wo ich vorher zur Schule gegangen bin oder wo ich früher gewohnt haben, sollten sie sich wesentlich klarer ausdrücken." Ich wurde auffordernd angesehen. Also sollte ich meine gefälschte Lebensgeschichte runterrasseln.

Hexagramm - SchlangenbrutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt