Das Waisenhaus hatte sich gefühlt kein wenig verändert. Das alte Gemäuer wirkte noch immer genauso kalt und abweisend wie bei meiner letzten Anwesenheit hier. Der graue Himmel mit den tiefhängenden Wolken und die Bäume, dessen Äste kahl in den Himmel ragten, halfen auch nicht wirklich dabei, dass alles freundlicher aussah. Auch das keine Menschenseele zu sehen war, machte das Gemäuer nicht einladender. Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, es wäre verlassen. Nicht einmal Licht war irgendwo zu sehen.
Doch ich wusste es besser. Die meisten Bewohner waren momentan im Studierzimmer, um dort ihre Hausaufgaben zu machen oder diese zu beaufsichtigen. Andere kümmerten sich wahrscheinlich um die anfallende Hausarbeit oder irgendwelche Verwaltungsaufgaben. Die Gartenarbeit war jetzt im Winter nicht nötig, daher befand sich niemand draußen, den man hätte sehen können.
Ich stopfte meine Hände in meine dicke warme Winterjacke, um sie vor der hier herrschenden Kälte zu schützen. Die Temperatur schien gerade, um ein paar Grad abgesackt zu sein. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, doch theoretisch war es möglich. Hogwarts lag schließlich hunderte von Kilometern entfernt.
Dumbledore und ich betraten die düstere Eingangshalle. Hinter dem kleinen Empfangstresen saß eine Nonne. Sie las im schwachen Schein einer kleinen Öllampe in der aktuellen Zeitung. Als sie allerdings das leise Quietschen der Eingangstür hörte, sah sie auf. Aufmerksam musterte sie zuerst Dumbledore und dann mich. Ich hatte mich vorsorglich im Schatten des Schulleiters versteckt, damit ich erst möglichst spät entdeckt wurde.
„Rona Maria Smith." Ich bekam einen mitleidigen Blick geschenkt. Warum tat ich ständig Menschen leid, die wussten, von wem ich die Gene abbekommen hatte? Als würde das irgendetwas an mir ändern. Ich war noch immer die Gleiche. Noch vor einer Woche hätte ich bei meiner Rückkehr nach einem solchen Ausflug einen ganz anderen Blick abbekommen. Einen anderen Blick und wahrscheinlich einen Rohrstock.
Die Nonne war mittlerweile aufgestanden und zu uns herüber geeilt. Ich wurde kurz kritisch gemustert, doch nachdem meine Unversehrtheit bemerkt worden war, bekam Dumbledore die Aufmerksamkeit.
„Und sie sind, Sir?"
„Professor Dumbledore, ich bin der Schulleiter von Hogwarts." Ich schaltete ab. Die Vorstellungsrunde und der übliche Smalltalk bis wir bei der Äbtissin waren, die vermutlich schon mit jemanden zusammensaß, der mich ins Zeugenschutzprogramm bringen würde, musste ich mir wirklich nicht antun.
Das Büro der Äbtissin hatte sich ebenfalls seit meinem letzten Besuch nicht geändert. Seit meinem ersten Besuch hier auch nicht. Wahrscheinlich hatte es sich in den letzten 100 Jahren nicht geändert. Jedenfalls der Einrichtung nach zu urteilen. Schwere, dunkle Holzmöbel standen überall im Raum. An den Wänden Bücherregale voll mit biblischen Inhalt, in der Mitte ein dicker, alter Schreibtisch, an dem die Äbtissin saß. Vor ihr lag der Ordner, welcher all die Dinge über mich enthielt, die größtenteils eine Lüge waren.
Nur zu gerne hätte ich sie näher an mich gezogen, um sie in Ruhe zu lesen. Oder besser gesagt, damit Ares sie mir vorlesen konnte. Ich kannte Auszüge, die mir immer wieder mit strengem Ton vorgelesen worden waren. Als wären meine früheren Vergehen schon Mahnung genug gewesen.
Doch die Tatsache, dass ich mich an Vollmond immer mal wieder herausschlich und auch manchmal erwischt wurde, hielt mich nun einmal nicht im Bett. Mal abgesehen davon, es war mir eigentlich unmöglich, mich an diesem Tag im Monat wirklich zu benehmen. Alles in mir war auf Konfrontation und Bewegung ausgelegt. Leicht reizbar zu sein, gehörte manchmal einfach zu einer Kriegsnymphe. Also noch leichter als ohnehin schon.
Viel interessanter als die Akte auf dem Tisch empfand ich allerdings die Personen, welche vor dem Tisch saßen. Anders als erwartet waren dort zwei weitere Anwesenden. Neugierig musterte ich die beiden. Die Frau, ungefähr Anfang dreißig, hatte sich über eine weitere Akte gelehnt. Sie sah allerdings auf, als wir hereinkamen, weshalb ich ihr ins Gesicht sehen konnte.
Automatisch verschränkte ich meine Arme vor der Brust. Sie kannte ich noch sehr genau. Schon bei meinem letzten Mal hatte sie mich ins Zeugenschutzprogramm gesteckt. Und jedes Mal wenn ich abgehauen war, wurde mir mitgeteilt wie unvernünftig und dumm es gewesen war. Schließlich könnte die PIRA noch immer hinter mir hersein.
Dafür sprach, dass wegen mir zwei ihrer Leute langsam im Schnee verblutet waren und ich eines ihrer Waffenlager auf der Suche nach Natasha in die Luft gejagt hatte. Damals gab es keine menschlichen Verluste. Außerdem war nie aufgeklärt worden, wer es getan hatte. Jedenfalls offiziell nicht. Doch daher standen meine Chancen gut, dass die Terrororganisation es nicht herausgefunden hatte.
Wahrscheinlich hatten sie das kleine Mädchen, dessen Eltern sie erschossen und dessen Schwester sie entführt hatten, einfach vergessen. PIRA hatte wahrscheinlich schon nach wenigen Tagen aufgehört, nach mir zu suchen.
Noch weniger als über Mrs Falgoust Anwesenheit freute ich mich über die ihres Begleiters. Auch der schon lange ergraute Mann neben ihr, würde mit Sicherheit nicht sehr glücklich über den Verlauf meines jetzigen Lebens sein. Mr Martin war Psychologe, spezialisiert auf Kinder. Er war nach meiner zweiten Flucht, aus einer vom Zeugenschutz gefundenen Unterbringung, hinzugezogen worden.
Bisher hatten die meisten unserer Gespräche daraus bestanden, dass ich ihn angeschwiegen hatte, oder ich hatte ihm mit Gegenfragen geantwortet. Am Ende musste er schließlich eingestehen, er kam genauso wenig an mich heran, wie alle anderen auch. Ich fiel nun einmal nicht auf seine blöden Psychotricks herein.
Ich blieb neben der Tür stehen. Während Dumbledore freundlich die Anwesenden begrüßte, musterte ich noch einmal genau die beiden anderen Besucher. Es würde wohl ein ziemlich anstrengendes Gespräch werden. Eines bei dem ich wie ein kleines Kind behandelt wurde, dem man möglichst schonend und nur in Anwesenheit eines Psychologen schlechte Nachrichten überbringen konnte.
„Das wird also die Art von Gespräch. Wollen sie anfangen oder soll ich?"
„Rona, wir sind nicht hier, um zu scherzen. Bitte setz dich erstmal." Mr Martin zeigte auf den letzten, leeren Stuhl. Ich verdrehte die Augen. Es wurde diese Art von Gespräch.
„Ich stehe sehr gut." Meinen Hintern hatte ich schließlich schon den ganzen Tag in einem Klassenraum abgesessen.
„Ich halte es für besser, wenn du dich setzt." Ich wurde auffordernd angesetzt.
„Wollen sie jetzt noch den ganzen Tag darüber diskutieren oder können wir jetzt einfach anfangen?" Ich tippte ungeduldig auf meinen Arm.
„Ich kann ihnen aus Erfahrung empfehlen, jetzt einfach anzufangen", erklärte Dumbledore an den Psychologen gewandt. Eine Antwort, die dem Mann sichtlich missfiel. Ich sah ihn nun noch auffordernder an. Ein kurzer Blick zu Mrs Falgoust reichte, damit der Mann nachgab. Offensichtlich hatte niemand mehr Lust zu diskutieren.
„Nun, wir konnten die Frage um deine Herkunft klären, Rona."
„Sie sind langsam, die Antwort kenne ich schon länger. Sie dürfen dieses Kapitel überspringen." Ich wurde vollkommen überrumpelt angesehen. Dann wandte sich der Psychologe an Dumbledore.
„Woher weiß sie es? Wir hatten darum gebeten, uns diese Angelegenheit zu überlassen."
„Oh, ich habe sie nicht darüber aufgeklärt, wer ihre Eltern waren. Miss Smith ist eine durchaus intelligente, junge Dame. Sie ist ohne mein Zutun diesem Geheimnis auf die Spur gekommen." Eine Antwort, die dem Psychologen noch mehr zu missfallen schien und ihm erst recht aus dem Konzept brachte.
„Ja, ähm, also unter diesen Umständen, Rona, du wirst sicherlich verstehen, dass uns die Identität deines Vaters sehr beunruhigt. Er hat..."
„..meine Erzeugerin umgebracht, wollte mich in die Luft sprengen und will mich noch immer ermorden. Ist mir ebenfalls bekannt. Nächstes Kapitel."
„Rona, es ist komplett normal, wenn dich die Identität und die Absichten deines Vaters beunruhigen." Dann war ich wohl nicht normal. Ich fühlte mich nicht beunruhigt. Nicht einmal ein kleines Bisschen. Zum einen hatte mich der Zweifel gepackt, dass er wirklich der Mörder war, für den ihn alle hielten, zum anderen würde ich ebenfalls mit ihm zurechtkommen, wenn ich mich irren sollte. Doch ich hatte nicht die Angewohnheit mich zu irren, daher machte ich mir keine Sorgen.
„Beunruhigt sie die Identität meines Vaters?" Ich sah ihm in die Augen. Ob er sich wohl Sorgen machte, dass ich die Tochter eines Mörders war? Gab er meinen Genen die Schuld für meinen Charakter? Mit dieser Vermutung hätte er wenigsten ausnahmsweise mal recht.
„Natürlich beunruhigt es mich, wenn ein Mörder frei herumläuft."
„Aber er will euch nicht töten." Und damit gab es keinen Grund, wegen ihm beunruhigt zu sein. Er würde sich wohl kaum mit irgendeinem Muggel befassen, der irgendwo herumlief. Entweder weil er einfach niemanden umbrachte oder weil er zu unwichtig war. Eines von beidem würde Martin schützen.
„Dich will er umbringen."
„Und sie wollen das verhindern."
„Das ist richtig. Du solltst in ein neues Zeugenschutzprogramm kommen."
„Ich weiß." Dieses Mal schaltete sich Dumbledore in das Gespräch ein. „Diese Information wollte ich ihr tatsächlich gegeben. Aber auch diese war ihr schon vorher bekannt." Diese Aussage brachte den Psychologen völlig außer Konzept. Er hatte wohl damit gerechnet, mit den ganzen Informationen einen Nervenzusammenbruch bei mir auszulösen. Ganz nach dem Motto, da passierte mit dem Stipendium endlich mal etwas Gutes in meinem Leben und dann so etwas. Doch stattdessen schien ich vollkommen gelassen zu und wusste schon alles.
„Miss Smith, ich habe noch etwas unter vier Augen hier zu besprechen. Sie werden sich doch mit Sicherheit kurzzeitig alleine beschäftigen können?" Dumbledore sah fragend zu mir herüber.
Normalerweise hätte ich es wahrscheinlich verneint, weil ich wissen wollte, was ich nicht mitbekommen sollte, doch heute wusste ich es schon. Schließlich hatte der Schulleiter schon erwähnt, er wolle mein neues Zeugenschutzprogramm verhindern. Also nickte ich und stand auf. Dann konnte ich hier wenigstens vor meiner Abreise ein wenig Chaos stiften.
Vor meinen Ausflug nach Hogwarts hatte mich schließlich Abigail darum gebeten mich, um die Kirchenglocke zu kümmern. Eine Bitte, die ich heute mehr als gerne erfüllte. Als mein Abschiedsgeschenk an meine ehemaligen Zimmergenossinnen.
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Hexagramm - Schlangenbrut
FanfictionDreizehn Nymphen, drei Verschollene und eine Entführte. Dreizehn fast ausgerottete Familien, doch dadurch auch zwölf Jahre Frieden. Rona Smith scheint auf den ersten Blick mit den Ereignissen von vor zwölf Jahren nichts zu tun zu haben. Die Namen Ca...