Das Sicherheitssystem von den Cunninghams war gut, doch noch immer ziemlich löcherig. Manchmal hatte es auch große Vorteile, wenn man von den Erwachsenen nicht ernst genommen wurde.
Als ich mit meinem Adoptivvater über das Sicherheitssystem geredet hatte, war er so nett gewesen, mir einen Plan zu zeigen. Von den Lücken darin, die ich gefunden hatte, wollte er gar nichts hören. Was sich jetzt gerade als äußerst praktisch erwies, da ich mich momentan problemlos vom Gelände schleichen konnte.
Na ja, wenn man es genau nahm, kletterte ich gerade. Von meinem Fenster rauf aufs Dach des Hauses, dann unbemerkt auf der anderen Seite herunter, einmal durch den Garten schleichen, nur um dann an genau im richtigen Moment über den Zaun zu klettern, während die Stelle in den Toten Winkeln der Überwachungskameras lag. Es waren vielleicht nur ein paar Sekunden, doch es würde für mich genügen. Und später würde ich hoffentlich wieder unbemerkt hier reinkommen. Am besten ohne dass jemand in der Zwischenzeit von meiner Abwesenheit Kenntnis gewonnen hatten. Also niemand außer Nymphedora.Ich spürte die Blicke der anderen auf mir. Die Leute versteckten sich in den Schatten. Lauerten auf den richtigen Moment, um mich zu überwältigen. In meiner aktuellen Kleidung viel ich in diesem Viertel auf wie ein bunter Hund. Bei den Cunninghams und insgesamt in der Vorstadt tarnte mich mein aktuelles Outfit perfekt, doch hier in der heruntergekommenen Gegend von Windsor wurden nur die falschen Leute aus den falschen Gründen auf mich aufmerksam.
Wenn ich mich nicht irrte, würden wahrscheinlich zwei Typen mit Messern hinter der nächsten Ecke auf mich lauern. So viel zu meinem Plan, unauffällig hier in der Gegend einen Shop zu finden, dort neue Klamotten zu kaufen und dann nicht mehr auszusehen, als wäre ich einen Überfall wert.
Ich bog um die nächste Ecke. Wie erwartet stellte sich mir ein Typ in den Weg, wahrscheinlich nur wenige Jahre älter als ich. Anders als ich passte er sehr gut in diese Gegend. Seine Kleidung wirkte schon alt und mit seiner dunklen Haut, den braunen Augen und den schwarzen Haaren erinnerte er mich an Jo. Doch wahrscheinlich lag die Ähnlichkeit nur daran, dass er ebenfalls einen mexikanischen Migrationshintergrund hatte und es in der Gasse dunkel war.
„Hallo, Kleine. Hast du dich verlaufen? Hier geht es nicht zum Einkaufszentrum."
„Und auch nicht zu einer deiner Ballettstunden." Ich drehte leicht meinen Kopf, um den Typen hinter mir kurz zu mustern. Er sah dem anderen ziemlich ähnlich. Definitiv waren die beiden Geschwister ungefähr im gleichen Alter. Eventuell waren sie auch zweieiige Zwillinge. Das erkannte ich sogar in dieser düsteren Gasse.
„Ist mir bewusst. Sehr nett, dass ihr mir den Weg zeigen wollt, aber den finde ich alleine." Ich drehte mich wieder zu dem Jungen vor mir. Ohne zu zögern machte ich einen weiteren Schritt vor.
„Und dir ist auch bewusst, dass man hier einen Wegzoll zahlen muss?" Ich verdrehte die Augen. Er glaubte wohl, das hier wäre sein Revier und deshalb könnte er sich alles erlauben.
„Ich hatte es vermutet. Allerdings interessiert es mich nicht." Unauffällig ließ ich mein Messer in die Hand rutschen. Ich hatte etwas dagegen, wenn man mich ausrauben wollte. Es war mir egal, ob ich nun reich war oder nicht. Ich ließ mich nicht zum Fußabtreter eines Anderen machen.
„Oh, aber uns interessiert es." Ein Messer wurde mir an die Kehle gehalten. An der Haltung konnte ich allerdings erkennen, dass der Typ sich nicht so gut mit dem Messerkampf auskannte. Wenn er schon jemand bedrohte, sollte er es doch wenigstens richtig machen. Dann würde er vielleicht auch ein wenig bedrohlich wirken. Doch so würde er höchstens jemanden ein paar Kratzer zufügen, doch keine schlimmen Wunden.
„Steck deinen Zahnstocher weg und du hinter mir auch. Ihr tut euch noch damit weh."
„Wie wäre es, wenn du uns dein Geld gibst. Deinen schicken Klamotten nach zu urteilen hast du eine Menge davon."
„Natürlich. Ich renne immer mit 100 Pound Scheinen in der Tasche rum. Wollt ihr drei davon haben? Oder vielleicht auch vier?"
„Du kleines arrogantes..." Ich machte einen weiteren Schritt vor. Mit einer geschickten Bewegung nahm ich dem Typ mir gegenüber das Messer ab. Der hinter mir wollte sich auf mich stürzen. Geschickt wich ich aus. Ich gab ihm einen leichten Klaps auf die Hand, weshalb sich diese öffnete. Die Waffe viel klappernd zu Boden.
„Also wie wäre es mit einem Deal? Ich demonstriere euch beiden nicht, wie gut ich mit denen hier umgehen kann und ihr werdet als Gegenleistung mir den Weg zum nächsten Laden zeigen. Alternativ demonstriere ich euch meine Fähigkeiten, ihr erklärt euren Eltern, wie ihr es geschafft habt, üble Messerschnitte abzukriegen, und dann besorge ich mir neue Kleidung. Also wollt ihr, dass eure Eltern eine dicke Krankenhausrechnung bekommen oder lieber nicht?" Die beiden Jungen sahen sich kurz an. Sie schienen kurz mit sich zu kämpfen. Es war auch wirklich unangenehm, von einer reichen Tussi besiegt zu werden. Doch schließlich überwog wohl die Angst vor den Eltern, den Wunsch mir eine reinzuhauen.
„Du kannst gehen."
„Wolltet ihr mir nicht den Weg zeigen?" Wieder schienen die beiden mit sich zu kämpfen.
„Wenn ihr nett seid, bringe ich euch sogar bei, wie man mit einem Messer umgeht. Jetzt kommt. Ansonsten laufe ich doch einfach nach der Karte in meinem Kopf." Ich lächelte die beiden Typen an, bevor ich mich an ihnen vorbeischob. Weit kam ich nicht. Kaum waren die beiden in meinem Rücken, räusperte sich einer von ihnen hinter mir. Breit grinsend drehte ich mich um.
„Ja?"
„Wir bringen dich hin", gab der eine nach.
„Wenn du uns wirklich zeigst, wie du uns unsere Messer abgenommen hast", fügte der andere noch hinzu. Ich nickte zufrieden. Das hörte sich doch nach einem guten Deal an.
„Wie heißt du eigentlich?" Meine beiden Führer sahen zu wieder auf meine Höhe zu kommen.
„Ich trage viele Namen. Denkt euch einfach einen Weiteren aus." Die beiden sahen sich amüsiert an. Sie gingen ganz offensichtlich davon aus, dass ich sie einfach nur verarschen wollte.
„Sie will geheimnisvoll sein."
„Aber irgendwie müssen wir sie nennen. Was könnte ihr Name sein?" Ich wurde nachdenklich angesehen. Leicht verdrehte ich die Augen.
„Ich wurde schon Patricia Prim, Rona, Rona Maria, Rana, Rena, Rina, Runa und Charlotte genannt. Sucht euch einen der Namen aus oder gebt mir einen weiteren. Ist mir egal." Ich ging in meinem Kopf zur Sicherheit noch einmal die Namen durch, die ich laut irgendwelchen Ausweisen oder einfach nur desinteressierten Pflegeeltern, die sich meinen richtigen Namen nicht merken konnten, getragen hatte.
„Aber einer von ihnen muss der Richtige sein. Und mit dem wollen wir dich anreden." Ich verdrehte die Augen. Die beiden waren ganz offensichtlich keine Waisenjungen, sondern lebten einfach nur in einer armen Familie. Ansonsten würden sie nicht so viel Wert auf ihren eigenen Namen legen.
„Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften", zitierte ich Shakespeare. Manchmal waren die alten berühmten Schriftsteller, doch sehr weise Menschen gewesen.
„Sie zitiert Shakespeare. Wetten wir, sie geht auch auf die schicke Vorortschule." Wie richtig sie damit lagen. Allerdings fragte ich mich, was das auch in dem Satz sollte. Sie gingen jedenfalls nicht dorthin. Vielleicht kannten sie allerdings Jo, dass würde die Aussage erklären.
„Definitiv und sie ist keine Stipendiatin." Eine ziemlich unnötige Feststellung.
„Aktuell werde ich Charlotte genannt. Der Name ist allerdings bescheuert. Also wie wäre es, wenn ihr mich einfach Charlie nennt. Als Spitzname." Die beiden Jungen sahen sich kurz neugierig an. Schließlich grinsten sie sich an.
„Also Charlie, ich bin Juan und das hier ist mein kleiner Bruder Jordi. Es ist uns eine Freude, dich kennengelernt zu haben." Ich verdrehte die Augen. Versuchte der Junge gerade tatsächlich, vornehm zu klingen, um sich meiner so offensichtlichen sozialen Stellung anzupassen, obwohl ich mich in seinem Revier herumtrieb? Wirklich unnötig. Ich war der Eindringling. Wenn schon sollte ich mich wohl anpassen. Schließlich war ich der Fremdkörper hier.
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Hexagramm - Schlangenbrut
FanfictionDreizehn Nymphen, drei Verschollene und eine Entführte. Dreizehn fast ausgerottete Familien, doch dadurch auch zwölf Jahre Frieden. Rona Smith scheint auf den ersten Blick mit den Ereignissen von vor zwölf Jahren nichts zu tun zu haben. Die Namen Ca...