Kapitel 4

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Ich bog um die Ecke des Ganges. Ein Glück, dass ich mir so gut irgendwelche Dinge merken konnte, ansonsten hätte ich die Wegbeschreibung wohl kaum im Kopf behalten und mich in dem Irrgarten aus Gängen verirrt. Ich bog um eine weitere Ecke und mein Ziel kam in Sichtweite. Die große Halle.
Drinnen hörte man schon das Geschirr klappern. Der Geruch von verschiedenen Speisen kam mir entgegen und ließ mich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Wenn es weiterhin so viel gutes Essen in Hogwarts gab, würde ich das im Kinderheim wohl kaum runter kriegen. Außerdem aß ich viel zu viel. Dann würde es mir nur schwerer fallen dort wieder mit den Miniportionen klarzukommen.
Kein Wunder, dass Jamie immer so hungrig war und sich Essen von seinem mageren Taschengeld kaufte, wenn er gerade wieder aus Hogwarts zurückgekommen war. Wenn man daran gewöhnt war, immer mit vollem Magen ins Bett zu gehen, war es mit Sicherheit noch schwerer sich von Haferschleim und ähnlichen zu ernähren. Doch wie ich nach meinem Rauswurf aus Hogwarts meinen Magen zufriedenstellen konnte, war ein Problem, mit dem ich nach meinem Rauswurf befasste. Mit Sicherheit würde ich es lösen, so wie bisher eigentlich fast jedes Problem.
Sobald ich die große Halle betrat, sahen mich mindestens die Hälfte der Leute an, eher noch mehr Menschen. Ich ignorierte die Blicke. Jamie saß am Rande des Ravenclawtischs. Er zeigte auf den freien Platz neben sich. Offensichtlich wollte er endlich mit mir reden. Seit ich den Hogwartsexpress verlassen hatte, konnten wir uns nicht mehr unterhalten.
Ich sah noch einmal kurz zum Slytherintisch, wo Adina mich mit glänzenden Augen ansah. Nein, ich hatte keine Lust auf die Mädchen aus meinem Schlafsaal. Jamie war wohl der Einzige in Hogwarts, der mich schon mochte, bevor ich ganz offiziell die Kriegsnymphe wurde. Und er hatte mich bisher noch nie angelogen. Zwei Dinge, die ich ihm hoch anrechnete. Also ließ ich das Mädchen, welches nur meine Kräfte sah einfach sitzen und ließ mich auf den freien Platz neben Jamie fallen. Keine Ahnung, ob ich damit gegen Regeln verstieß oder nicht.
Ich sah noch einmal zu Adina, die sich mittlerweile an ihrem Bruder gewandt hatte und mit ihm flüsterte. Offensichtlich machte ihr meine Abwesenheit nicht so viel aus. Warum auch, es ging schließlich nur um das Medaillon nicht um die Person, die es trug.
„Wo ist Ares? Ich habe dich noch nie ohne ihn gesehen. Nicht einmal nachts im Bett. Was sich jetzt ziemlich komisch anhört."
„Wir haben uns gestritten." Unser erster Streit, wenn man ganz genau nimmt.
„Was hat wer angestellt?"
„Ares hat mich – na ja, eigentlich hat er mich nicht direkt angelogen, aber er wusste von dem ganzen Chaos. Er wusste von dieser Marianne und dieser Kira Lorraine. Er hat es mir nicht gesagt, dabei ist er schon mein ganzes Leben lang an meiner Seite. Er hätte es mir doch sagen müssen. Er hat mir nicht einmal gesagt, wer meine wahre Mutter ist. Er hat mich die ganze Zeit glauben lassen, es wäre meine Vorgängerin, dabei war es sie gar nicht."
„Kann es sein, dass er das Gleiche getan hat, wie du immer tust? Nur die halbe Wahrheit erzählen, damit andere die falschen Schlüsse ziehen?" Ich biss mir auf die Unterlippe. Damit hatte er natürlich recht. Ich tat immer exakt das Gleiche. Doch es war eine Sache, es bei Fremden zu tun und eine ganz andere, seine eigene Nymphe auf diese Art und Weise zu manipulieren.
„Er hat mich hintergangen. Ab jetzt bleibt er im Zimmer." Ich musste an die vielen Male denken, wo ich ihn gefragt hatte, ob er nun endlich wüsste, wo meine kleine Natasha steckte und wie oft er sagte, er könnte es mir nicht sagen. Ich war immer davon ausgegangen, er wüsste es einfach nicht, doch jetzt langsam glaubte ich, dass er es mir auf Grund der möglichen Folgen nicht sagen wollte. Dass er nicht wirklich wollte, dass ich Natasha fand. Ich schluckte schwer. Wer wusste schon, was Ares wirklich vorhatte? Anscheinend nicht einmal ich.
Ich griff nach dem Essen auf dem Tisch. Wenn ich den Mund voll hatte, musste ich nicht mehr mit Jay Jay reden.
„Also hast du ihm Stubenarrest erteilt? Irre ich mich oder solltest du nicht Respekt vor ihm haben?" Ich zuckte mit den Schultern.
„Kennst mich doch. Regeln, Autoritäten und ich sind jetzt nicht unbedingt so super Freunde." Ich zwinkerte ihm zu. Er begann deshalb nur noch breiter zu grinsen.
„Jetzt aber zu einem anderen Thema. Wie war dein erster Schultag? In welcher Klasse bist du überhaupt?" Ich seufzte leise. Wenigstens redeten wir nicht mehr über Ares und mich.
„Dritte Klasse. Ich war noch nicht im Unterricht. Dummerweise habe ich Pflege magischer Geschöpfe gewählt und das habe ich gleich."
„Warum ist das dumm? Stammt von dir nicht der Spruch: Je mehr ich Menschen betrachte, desto sympathischer werden Tiere?" Ja, das war wohl ein exaktes Zitat von mir. Danach hatte ich Jamie und zwei Typen, die ihn dazu zwingen wollten ihre Hausaufgaben zumachen, stehen gelassen. Na ja, Jay Jay hatte gestanden. Die zwei Typen hatten nach einem kurzen Arschtritt auf dem Boden gelegen. Das Eichhörnchen, welches sich danach zu mir gesellt hatte, war allerdings auch wirklich ein angenehmerer Zeitvertreib gewesen, als die meisten Menschen, die ich kannte.
„Ja, und weißt du, warum ich das so sehe? Weil es in meinen Genen vorprogrammiert ist. Genauso wie in dem von meinem Spiegelbild. Sie wird es gewählt haben und mir wahrscheinlich die ganze Stunde auf die Nerven gehen. Ich hoffe nur, meine Zimmergenossinnen sind sich zu fein ihre frisch manikürten Fingernägel mit Matsche zu bekleckern. Dann habe ich wenigstens vor denen Ruhe." Jay Jay neben mir versuchte mühsam, nicht ganz so breit zu grinsen, allerdings ohne wirklichen Erfolg. Offensichtlich amüsierten ihn meine ganzen Probleme eher.
„Grins nicht so blöd." Ich begann mit meiner Gabel auf die Kartoffel einzustechen. An irgendetwas musste ich schließlich meine Laune auslassen. Die Alternative wäre wohl Jamies Arm.
„Bisher waren die beiden Malfoys doch sehr nett zu dir." Jetzt ging das Aufmuntern los.
„Ich weiß auch, warum sie so nett zu mir sind. Weil ich einen magischen Genjackpot in mir trage. Das Blut von zwei Nymphenfamilien fließt durch meine Adern. Als sie noch dachte, ich wäre eine einfache Hexe, da war ich für sie nicht mehr wert als eine Kakerlake."
Ich fing an mir das Essen in den Mund zu stopfen. Es war viel zu schade, um es nur mit meiner Gabel zu erstechen. Außerdem konnte ich nicht sprechen, wenn ich den Mund voll hatte.
„Mich nimmt sie nicht wahr. Freue dich, dass du die Aufmerksamkeit einer Kakerlake gekriegt hast." Ich verdrehte die Augen. Darauf konnte ich wirklich verzichten. Genauso wie auf das Auftauchen meiner leiblichen Familie.
„Du gehst mir auf die Nerven." Ein weiterer Teil meines Essens landete in meinem Mund.
„Seit wann sprichst du mit vollem Mund?" Ich zuckte mit den Schultern.
„Seitdem ich nicht mehr versuche, Leute davon abzuhalten sich an meinen Essen zu vergreifen. Essen ist langweilig, wenn man nicht versucht andere mit einer Gabel abzustechen. Also rede ich halt jetzt beim Essen. Wie immer ohne mich benehmen zu können, daher mit vollem Mund." Jamie neben mir grinste mal wieder.
„Keine Sorge. Bei mir hast du immer ein Plätzchen frei, um dich daneben zu benehmen. Allerdings solltest du jetzt endlich mal den Teller aufessen. In fünf Minuten musst du zu deinen Tierchen und danach den heutigen Tag nacharbeiten. Außer du setzt hier deine Hausaufgabenverweigerung fort. Dann kann ich dir gerne das ganze Schloss zeigen."
Ich seufzte leise. Hausaufgaben. Es war klar, dass dieses Thema auch auf dieser Schule aufkommen würde, doch eigentlich hatte ich gehofft, es würde noch ein wenig länger dauern.
Mir wurde auf die Schulter getippt. Ich schob mir noch eine Gabel der leckeren Nudeln in den Mund, bevor ich mich umdrehte. Hinter mir standen Adina und Draco Malfoy. Letzterer wurde von Pansy Parkinson angehimmelt, ignorierte es allerdings offensichtlich. Lieber musterte er meinen Gesprächspartner abfällig. Seine zwei Schlägertypen schienen auf den Befehl zu warten, den Waisenjungen neben mir zusammenzuschlagen, weil er mit mir gesprochen hatte. Damit hatte Jay Jay wohl den Status einer Kakerlake erreicht. Aber wenigstens bekam er jetzt Aufmerksamkeit, um mal sein Gedankengang zu übernehmen.
„Was kann ich für euch tun?"
„Den Mund leer machen, bevor du mit uns redest, wäre schon einmal ein guter Anfang. Du kommst doch nicht aus der Gosse!" Ich drehte mich wieder zu meinem Teller, um mir rein aus Prinzip noch mehr in den Mund zu stopfen.
„Nein, da hast du Recht. Zwischen Gosse und Hogwarts lagen ein paar Waisenhäuser." Weitere Nudeln kamen in meinem Mund, während hinter mir alles still blieb. Ein Teil von mir wollte sich gerne zu den Leuten hinter mir umdrehen, um die Gesichter zu sehen, doch meine Instinkte rieten mir, doch lieber den Teller leer zu essen.
„Was wollt ihr jetzt?" Dieses Mal fragte ich, während die Gabel zum Mund wanderte. Also mit leeren Mund. Mopsgesicht war bestimmt glücklich deshalb.
„Ich wollte wissen, wie dein Test ausgegangen ist."
„Schlecht, Dumbledore will, dass ich in den Unterricht gehe." Wieder hinter mir dieses überforderte Schweigen.
„Und in welchen Jahrgang bist du gekommen?"
„Eurer."
„Wirklich? Das ist ja super! Dann haben wir ganz viel zusammen Unterricht. Welche Wahlpflichtfächer hast du?" Adina hörte sich so an, als könnte sie sich wirklich nichts Besseres auf der Welt vorstellen, als mit mir zusammen in den Unterricht zu gehen.
„Alte Runen und Pflege magischer Geschöpfe." Man hörte Mopsgesicht knurren, weil ich mal wieder mit vollem Mund redete. Die Wassernymphe hinter mir gab ein glückliches Quietschen von sich, welches wahrscheinlich auch von Fledermäusen wahrgenommen wurde. Natürlich sahen nun noch mehr Leute zu uns herüber.
„Dann haben wir jetzt alle zusammen Unterricht. Ist das nicht super? Los, komm, wir müssen nach draußen!" Ich wurde auf die Beine gezogen, während ich mir noch schnell eine weitere Gabel in den Mund schob.
„Ich hab doch eh keine Schulsachen", nuschelte ich. Was sollte ich im Unterricht? Ich konnte nicht mitschreiben, was ich sowieso nicht getan hätte, hatte kein Buch, welches mir eh nichts genützt hätte und vor allem hatte ich keine Lust auf das Zusammentreffen mit meinem Spiegelbild und dessen Gefolge.
„Du kannst dir Sachen von mir und Draco leihen. Das macht keine Umstände." Adina lächelte mich an, als wäre etwas Gutes. Ich seufzte leise, gab meinen Protest gegen den Unterricht auf und angelte mir lieber im Vorbeigehen noch ein paar Erdbeertartelettes. Jamie fing an, zu lachen, auf Grund meiner Aktion. Hätte ich nicht in der einen Hand meine Nachspeise und würde an der anderen gezogen, hätte ich ihm den Mittelfinger gezeigt. So blieb nur mein Todesblick.
Ich wurde nach draußen gezogen, wo es über sanft abfallenden Rasen zu einer Hüte nahe des Waldes ging. Dumbledore hatte mir heute Morgen noch erklärt, dass ich nicht auf die Idee kommen sollte, in den Wald zu gehen. Das Betreten war aufs strengste Verboten, außer man hieß Kira Lorraine Sanders oder Marianne Huxon. Die beiden durften ihre Vollmondnächte selbstverständlich dort verbringen. Als Tiernymphe bekam man wohl ein Haufen an Extrawürsten.
Adina redete die ganze Zeit mit mir. Das hieß, die Wassernymphe redete mich voll, hin und wieder kam ihr Bruder zu Wort und ich aß meine Erdbeertartelettes.
An der Tür der Hütte stand schon ein riesiger Mann. Er war bestimmt doppelt so hoch und fünf Mal so breit wie ein normaler Mensch. Das Gesicht war fast unter einer zotteligen, ergrauten Haarmähne und einem Bart verdeckt. Dieses ganze Auftreten wirkte ziemlich wild. Wahrscheinlich jagte er auch vielen Menschen Angst ein.
„Das ist Hagrid. Er ist Wildhüter hier und hat dieses Jahr das Amt des Lehrers für Pflege magischer Geschöpfe angenommen", erklärte mir Adina.
„Er ist ein trotteliger Idiot. Hoffentlich wird er bald wieder gefeuert. Nur ein Fehltritt und ich lasse meinen Vater dafür sorgen." Draco Malfoy sah abfällig zu dem Mann herüber, während ich triumphierend grinste. Ich wusste doch, dass er ein verwöhntes Balg war, welches bei jedem Problem zu Daddy rannte.
„Probleme werden von deinem heißgeliebten Daddy gelöst, was Malfoy?", meinte ich belustigt.
„Gute Eltern kümmern sich um ihre Kinder und geben sie nicht im Kinderheim ab." Ich schluckte schwer. Das war ein Volltreffer gewesen.
„Draco! Vergiss nicht deine Manieren!" Die Wassernymphe sah empört zu ihrem Adoptivbruder. Der blonde Junge zuckte gelangweilt mit den Schultern. Allerdings wollte er wohl nicht weiter mit uns reden.
Stattdessen sich Malfoy an seine beiden Gorillas. Sie begannen über die Vorfälle im Zug zu reden. Also genauer gesagt, machten sie sich über Potters Ohnmachtsanfall lustig. Die drei lachten sich kaputt, während Pansy versuchte, sich in diesem Gespräch einzubringen. Allerdings wirkten die Jungen nicht so, als würden sie sich darüber wirklich freuen.
Potter kam gerade, gefolgt von dem rothaarigen Jungen aus dem Zug, dem Mädchen mit den ungezähmten Haaren und natürlich meinen beiden Blutsverwandten. Diese hatten Adina und mich schon längst entdeckt. Sie steuerten auf uns zu. Nein, bitte nicht.
„Kommt bewegt euch!" Professor Hagrid wank die herannahenden Schüler zu sich.
„Hab'ne kleine Überraschung für euch! Wird 'netolle Stunde! Sind alle da? Schön, dann folgt mir!" Er lief in Richtung des verbotenen Waldes. Vielleicht durfte ich ihn jetzt doch mit Erlaubnis erkunden. Ansonsten würde ich es wohl irgendwann heimlichtun.
Meine Hoffnungen stellten sich als falsch heraus. Wir liefen um einen Ausläufer des Waldes herum und standen schließlich am Rand einer leeren Koppel. Vielleicht war unser heutiger Unterrichtsstoff ausgebrochen und die Stunde würde ausfallen. Würde mir sehr gut gefallen.
„Stellt euch dort drüben am Zaun auf!" Der Lehrer zeigte auf eine Stelle. Offensichtlich überraschte es ihn nicht, dass die Koppel leer war. Sehr schade, dann würde es jetzt wohl doch Unterricht geben. Wir folgten den Anweisungen.
„Sehr schön – passt auf, dass alle etwas sehen können – und jetzt schlagt erstmal eure Bücher auf –" Das fing ja schon gut an. Als Allererstes mussten wir lesen. Möge dieses blöde Buch doch einfach von unserem heutigen Unterrichtsstoff gefressen werden.
„Wie denn?" Draco sah hasserfüllt zu dem Lehrer herüber.
„Was denn?" Der Lehrer wirkte verwirrt.
„Wie sollen wir unsere Bücher öffnen?" Ich verdrehte die Augen. Malfoy brauchte wirklich bei allem Hilfe.
„Brauchst du Daddys Hilfe beim Öffnen von Büchern? Weißt du, das ist nicht schwer. Wenn du willst, zeige ich es dir." Der blonde Junge verdrehte die Augen. Ohne einen Kommentar abzugeben, zog er das Buch heraus. Es hatte einen wirklich hübschen grünen Einband, auf dem in Goldlettern irgendetwas geschrieben war. Malfoy hatte seines mit einem Seil zugebunden. Ich zog eine Augenbraue hoch, während ich die anderen beobachtete. Alle hatten ein Seil, Gürtel oder etwas Ähnliches um das Buch befestigt. Was war bitte so besonders an dem Buch, dass diese Maßnahme erforderlich war?
„Hat denn – hat denn kein Einziger sein Buch öffnen können?" Offensichtlich war der Lehrer genauso verwirrt auf Grund dieser Fesselaktion wie ich. Die Schüler schüttelten die Köpfe.
„Ihr müsst sie streicheln." Professor Hagrid sagte es so, als wäre es selbstverständlich, Schulbücher zu streicheln. Bisher hatte ich die Dinger lieber weggeworfen.
„Seht mal –" Er schnappte sich das Buch von Potters Freundin und riss das Band herunter. Das Buch versuchte, ihn zu beißen, doch der Professor fing an, den Buchrücken zu streicheln. Ich mochte das bissige Ding in der Hand des Lehrers. Das Schulbuch fing an zu zittern, klappte auf und blieb ruhig im Handrücken liegen. Vielleicht war es doch ein wenig zu einfach das Buch zu zähmen für meinen Geschmack.
„Oh, wie dumm wir doch alle waren!", höhnte Malfoy neben mir. „Wir hätten sie streicheln sollen! Da hätten wir doch von alleindraufkommen können!" „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung."
„Ach, du hättest das Buch gestreichelt?" Nein, hätte ich nicht. Zum Glück blieb ich Malfoy eine Antwort schuldig, da der Lehrer mal wieder die Aufmerksamkeit des Schülers bekam.
„Ich – ich dachte, sie sind ganz lustige Dinger", meinte der Lehrer an Potters Freundin gewandt.
„Oh – total lustig! Unglaublich witzig, uns Bücher zu geben, die uns die Hände abreißen wollen!" Malfoy ohne Hände? Ein wirklicher Unterschied wäre dies wohl kaum. Schon jetzt rannte er bei allem zu Daddy.
„Halt den Mund, Malfoy", flüsterte Potter leise.
„Na denn –" Unser Lehrer hatte offensichtlich den Faden verloren. Wenn ihm solche Kleinigkeiten aus dem Konzept brachten, hatte er wohl wirklich den falschen Beruf gewählt.
„Also- ihr habt jetzt eure Bücher – und – jetzt braucht ihr die magischen Tiere. Ja. Also geh ich sie mal holen. Wartet mal –" Der Lehrer verschwand im verbotenen Wald. Ich lehnte mich gegen den Zaun.
„Mein Gott, diese Schule geht noch vor die Hunde. Dieser Hornochse gibt auch noch Unterricht, meine Vater kriegt 'nen Anfall, wenn ich ihm das erzähle."
„Halt den Mund, Malfoy." Potter und Malfoy musterten sich böse. Ich wandte mich kopfschüttelnd von den beiden ab. Sollten sie sich doch streiten. War nicht mein Problem.
„Pass auf, Potter, hinter dir steht ein Dementor!"
„Uh!", kreischte ein anderes Mädchen aus Gryffindor und deutete auf die Koppel. Neugierig drehte ich mich um.
Ein Dutzend komischer Kreaturen kamen auf uns zu getrottet. Sie hatten die Körper, Hinterbeine und Schwänze von Pferden, doch die Vorderbeine, Flügel und Köpfe waren die riesiger Adler mit grausamen, stahlfarbenen Schnäbeln und großen, leuchtend orangeroten Augen. Die Krallen an ihren Vorderbeinen waren lang wie Hände und sahen todbringend aus. Jedes der Tiere hatte einen dicken Lederkragen um den Hals, an dem eine lange Kette befestigt war und alle Ketten liefen in den Pranken des Lehrers zusammen.
„Das sind Hippogreife. Sind es nicht wunderschöne Tiere?" Kira Lorraine und Marianne hatten sich zu uns durchgekämpft. Meine Zwillingsschwester sah mit strahlenden Augen zu den Tieren. Auch ihre Cousine wirkte angetan von ihnen, während sich in mir gerade alles dagegen wehrte sie nun auch als schön anzuerkennen. Auch wenn ich sie wirklich faszinierend fand. Vor allem da sie so gefährlich wirkten. Doch wahrscheinlich waren sie so zahm, dass man jede einzelne Feder aus ihrem Körper einzeln ausrupfen konnte ohne, dass sie sich zu wehr setzten.
„Ich finde sie toll. Und du Pa– Rona?"
„Sie sehen ziemlich tödlich aus."
„Oh, Hippogreife sind sehr gefährlich, wenn man sie falsch behandelt." Das hörte ich doch gerne.
„Hippogreife!", donnerte unser Lehrer glücklich. Damit lenkte er wieder die Aufmerksamkeit auf sich. Wir wurden zu ihm herangewunken.
„Herrlich, nicht wahr?" Ja, damit hatte der Lehrer auf jeden Fall recht. Ich betrachtete fasziniert die Pferd-Vogel-Hybriden, die in allen möglichen Farben vor uns standen: sturmgrau, Bronze, rostrot, schimmernd kastanienbraun und tintenschwarz.
„So, wollt ihr nicht ein wenig näher kommen?" Die meisten blieben einfach an Ort und Stelle stehen. Marianne, Kira und ich standen schon genau am Zaun, doch ein Teil von mir wollte darüber klettern und noch näher an die Tiere heran. Auch Harry und seine Anhängsel kamen noch näher heran.
„Nun, als Erstes müsst ihr wissen, dass Hippogreife stolz sind." Der Lehrer sah zu uns herüber.
„Sind leicht beleidigt, diese Hippogreife. Beleidigt nie einen, denn das könnte eure letzte Tat gewesen sein." Malfoy unterhielt sich mit seinen Anhängseln gedämpft. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen, heckten sie gerade irgendetwas aus. Wahrscheinlich wollten sie den Unterricht stören oder Potter weiter ärgern. Beides nicht mein Problem. Ersteres würde mir sogar in die Karten spielen.
„Ihr müsst immer abwarten, bis der Hippogreif den ersten Schritt macht", fuhr der Professor fort,
„Das ist höflich, versteht ihr? Ihr geht auf ihn zu und verbeugt euch und wartet. Wenn er sich auch verbeugt, dürft ihr ihn berühren. Wenn er's nicht tut, dann macht euch schleunigst davon, denn diese Krallen tun weh. Also, wer will als Erster?" Die meisten wichen noch weiter zurück. Automatisch schoss meine Hand in die Luft genauso wie die von Kira. Ich konnte es kaum erwarten, mit diesen Tieren zu arbeiten. Dass die Hippogreife gefährlich waren, machten sie doch erst interessant.
„Will es vielleicht jemand versuchen, der – ähm – weniger Erfahrung im Umgang mit diesen Tieren hat." Mein Blick glitt zu Marianne und Kira Lorraine. Nein, in Texas hatten sie nicht wirklich Hippogreife gehabt. Ansonsten hätten sie anders auf die Tiere reagiert. Also wusste er offensichtlich von der Nymphensache.
Na toll, jetzt durfte ich nicht zu den Hippogreifen, nur weil dieses blöde Spiegelbild aufgetaucht war. Nur weil sie automatisch wusste, wie man mit den Tieren umgehen konnte, galt das noch lange nicht für mich.
„Vielleicht jemand anderes?" Der Lehrer hatte einen flehenden Blick aufgesetzt. Er hatte definitiv den falschen Beruf.
„Ich mach's", rief Harry. Man hörte ein lautes Aufatmen in der Menge. Zwei Mädchen, eines hatte beim Auftauchen der Hippogreife „Uh!" gerufen, flüsterten: „Oh, nein, Harry, denk an deine Teeblätter!" Denk an deine Teeblätter? Was hatten die beiden denn bitte genommen?
„Die Wahrsagelehrerin hat Harrys Tod in Teeblättern gelesen. Sie sagt wohl jedem Jahr einem Schüler den Tod voraus", wurde ich von meinem Spiegelbild informiert. Potter kletterte über den Zaun.
„Mutiger Junge, Harry!", polterte der Lehrer. Wie bitte? Wenn der sich aus Mitleid mit dem Lehrer meldete, war es mutig und wenn ich mich meldete nicht? Blödes Tiernymphenblut.
„Gut, schauen wir mal, wie du mit Seidenschnabel zurechtkommst." Ein grauer Hippogreif wurde von seinen Artgenossen fortgezogen und schließlich von seinem Lederkragen befreit.
„Ruhig jetzt Harry. Du blickst ihm in die Augen, und versucht jetzt, nicht zu blinzeln. Hippogreife trauen dir nicht, wenn du zu viel blinzelst ..." Seidenschnabel hatte seinen großen, scharf geschnittenen Kopf zur Seite geneigt und starrte Potter an.
„Sehr gut, Harry. Sehr gut, Harry... und jetzt verbeug dich ..." Ich sah neugierig dabei zu, wie sich der Gryffindor verbeugte, während er weiterhin herablassend vom Hippogreifen angestarrt wurde. Der Blick erinnerte mich ein wenig an den der Malfoys. Harry, welcher mittlerweile aufgeschaut hatte, rührte sich noch immer nicht.
„Ah." Jetzt wirkte der Lehrer ziemlich beunruhigt.
„Na gut, zieh dich zurück, Harry und ganz vorsichtig-" In diesem Moment knickte der Hippogreif seine Vorderknie ein und neigte unmissverständlich den Kopf.
„Gut gemacht, Harry!" Jetzt wirkte Professor Hagrid begeistert.
„Schön, du kannst ihn anfassen! Tätschel seinen Schnabel, nur zu!" Potter schien sich bei dem Gedanken nicht gerade wohl zu fühlen, doch er ging trotzdem langsam nach vorne. Mit ausgestreckter Hand wurde der Schnabel getätschelt. Der Hippogreif schloss entspannt die Augen, als würde es ihm gefallen. Die Leute um mich herum brachen in stürmischen Beifall aus.
„Jetzt weiter, Harry. Ich schätze, er lässt dich reiten!" Potter blieb verunsichert vor dem Tier stehen.
„Steig auf, gleich hinter den Flügelansatz und pass auf, dass du keine Federn raus ziehst, das mag er gar nicht..." Jetzt durfte Potter fliegen? Mein Blick glitt wieder zu meinem Spiegelbild. Wären wir nicht verwandt, wäre ich als Freiwillige genommen worden. Dann könnte ich jetzt eine Runde auf dem Hippogreifen fliegen.
Potter saß nun auf dem Rücken von Seidenschnabel, welcher gerade wieder aufstand.
„Dann mal los!" Der Lehrer klatschte dem Hippogreifen auf den Hintern, weshalb dieser seine Flügel ausbreitete. Potter konnte noch gerade seine Arme um seinen Hals schlingen. Die beiden schossen in die Höhe.
Nachdem Potter bei seinem Flug über die Koppel nicht gestorben war, auch wenn Lavender Brown und Parvati Patil, die beiden Mädchen mit den Teeblättern, solange meinten, er würde gleich sterben, weshalb Granger und Potters rothaariges Anhängsel, die beiden zum Schweigen brachten, waren alle etwas mutiger, was die Tiere anging.
Ich hatte mich mittlerweile von meinem Spiegelbild und ihrer Cousine abseilen können. Stattdessen hatte ich nun wieder Adina am Hals, die gerade irgendwelchen Klatsch und Tratsch zum Besten gab. Wir standen gemeinsam vor einem sturmgrauen Exemplar. Vorsichtig verbeugte ich mich. Dabei achtete ich genau darauf, dass ich möglichst wenig blinzelte. Kaum hatte ich zu dieser unterwürfigen Bewegung angesetzt, machte es mir das Tier schon gleich. Automatisch musste ich lächeln. Mit Tieren hatte ich mich schon immer besser verstanden als mit Menschen.
„Ich wünschte, ich würde auch deine Blutsmischung haben. Dann würde er auch sofort mögen." Adina sah verträumt zu dem Tier, während ich sie böse anfunkelte. Super, jetzt wurde hier jede meiner Leistungen mit dieser Begründung abgetan.
Ich wandte mich wieder von der anderen Nymphe ab. Ich würde meine Zeit mit Sicherheit nicht mit ihr verschwenden. Als Nächstes glitt mein Blick zu meinen Blutsverwandten. Die beiden hatten es sich mit Hagrids Erlaubnis gerade auf einem rostbraunen Hippogreif gemütlich gemacht, bereit eine Runde zu fliegen. Das hatte mit Sicherheit etwas mit Nymphenmagie zu tun.
Ich lief zu meinem Hippogreifen, welcher sich genüsslich von mir am Schnabel streicheln ließ.
„Jetzt will ich es versuchen." Ich hätte fast die Blondine einfach ignoriert und hätte mich weiter mit dem Tier vor mir beschäftigt, doch dieser primitive Teil in meinem Gehirn, welcher mir riet andere olympischen Nymphen nett genug gegenüber zu sein, dass wir im Notfall Seite an Seite kämpfen konnten, ließ mich ein Schritt bei Seite treten.
Während die Wassernymphe sich verbeugte, ließ ich mein Blick über die anderen Schüler streifen. Malfoy und seine Anhängsel hatten sich Seidenschnabel vorgenommen. Der Anführer des Trios streichelte mit verächtlichem Blick den Schnabel des Tiers. Das konnte doch nur schief gehen.
„Das ist doch kinderleicht. Hab ich doch gleich gewusst, wenn Potter es schafft ...", gab Malfoy an. Sein Blick glitt zu mir.
„Selbst das Mädchen aus der Gosse kann es und die ist seit kaum mehr als 24 Stunden in der magischen Welt." Meine Finger schlossen sich um das Messer in meinem Ärmel. Ich könnte damit Malfoy kinderleicht zum Schweigen bringen. Dieser wandte sich gerade wieder an Seidenschnabel.
„Ich wette, du bist überhaupt nicht gefährlich, oder? Oder doch, du großes, hässliches Scheusal?" Automatisch setzten sich meine Beine in Bewegung. Wenn er auf mich herabsah, weil ich auf der Straße gelebt hatte, konnte ich damit gut leben. Malfoy war alleine nicht lebensfähig. Ohne jemand, der ihn bekochte, seine Wäsche wusch oder sein Bett machte und seinem Daddy, der alle Probleme für ihn aus der Welt räumte, war er total aufgeschmissen. Er sah auf mich herab, weil ich nicht in einem riesigen Anwesen wohnte, wo mir der Arsch hinterhergetragen wurde? Ich hatte mindestens genauso viele Gründe, um auf ihn herabzusehen. Doch dass er ein so wunderschönes Wesen wie Seidenschnabel anging, löste etwas in mir aus, dass mich dazu brachte, mich wirklich auf ihn zu stürzen. Na ja, ich wollte es, doch Seidenschnabel war schneller.
Man sah nur ein stählernes Schnabelblitzen, von Malfoy kam ein durchdringender Schrei und schon hatten Professor Hagrid und ich die beiden erreicht. Ich natürlich mit meinem Messer in der Hand. Die eine Hälfte der Klasse, starrte meine Waffe an, die ich in aller Seelenruhe wieder in meinem Ärmel verschwinden wird, die andere Hälfte starrte zu Malfoy, welcher zusammengerollt im Gras lag. Blutflecken erschienen auf seinem Umhang und wurden langsam größer.
„Ich sterbe!", schrie Malfoy, weshalb sich nur noch mehr Panik ausbreitete.
Neugierig betrachtete ich die Verletzung. Eine lange klaffende Wunde an Malfoys Arm. Mit Sicherheit sehr schmerzhaft, man sollte sie wohl auch besser heilen, doch in akuter Lebensgefahr schwebte er gerade eher nicht.
„Stell dich nicht so an, Malfoy. Das bisschen Blut bringt dich nicht um." Ich wurde hasserfüllt von dem Slytherin angesehen.
„Was weißt du schon!" Professor Hagrid, welcher bisher Seidenschnabel beruhigt hatte, wandte sich an Malfoy.
„Du stirbst nicht! Helft mir mal, ich muss ihn hier rausbringen-" Hermine lief zum Tor und öffnete es. Malfoy wurde von unserem Lehrer mühelos hochgehoben. Mein Mitschüler wurde in Richtung Schloss davongetragen.
Mit einigen Abstand folgten wir Professor Hagrid, welcher mit Malfoy zum Schloss vorrannte.
„Sie sollten ihn rauswerfen!" Pansy Parkinson hatte ernsthaft Tränen in den Augen. Wenn diese Wunde sie schon so aus der Fassung brachte, wollte ich nicht wissen, was passiert, wenn sie den blonden Jungen geschockt irgendwo auffand. Wenn er nicht mehr seinen Senf dazugab. Wahrscheinlich würde sie dann ein Drama draus machen, als wäre er gestorben.
„Malfoy war doch selber schuld", ging ein Gryffindorjunge das Mädchen an. Damit hatte er absolut recht. Wir waren davor gewarnt worden, dass Hippogreife stolze Geschöpfe waren, und Malfoy hatte es nicht beachtet. Anscheinend war sein Stolz wohl mindestens genauso groß wie das der Tiere.
Wir hatten mittlerweile die Treppe zur menschenleeren Eingangshalle erreicht, die wir nun emporstiegen.
„Ich schau nach, wie es ihm geht!" Pansy Parkinsons rannte weiter in Richtung der Marmortreppen und diese dann herauf. Währenddessen folgten ihr die Blicke der anderen.
Wir anderen Slytherins liefen einfach weiter in Richtung Kerker. Offensichtlich wollte niemand anderes Malfoy besuchen. Weder seine Schwester, noch seine zwei Schlägertypen. Das nannte man dann wohl wahre Freundschaft.

Hexagramm - SchlangenbrutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt