Kapitel 25

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Ich sah genervt zu Mrs Falgoust, die gerade ein drittes Mal meine falsche Lebensgeschichte vorlas. Ich hatte sie mir schon beim ersten Mal gemerkt, die zweifache Wiederholung, bei der ich immer angeschnauzt wurde, wenn ich nicht mehr zuhörte.
„Hast du dir alles gemerkt?"
„Ja."
„Dein Name?"
„Charlotte Cunningham. Ich bin am zweiten Januar 1980 in Liverpool geboren worden. Meine Eltern sind Prudence und Henry Cunningham. Er wurde am 23.05.1949 in Blackburn geboren. Nach seinem Schulabschluss zog er nach Liverpool, wo er auf der Universität Sicherheitstechnik studierte. Nebenbei jobbte er noch in einer Sicherheitsfirma dort. Am Ende seines Studiums lernte er meine Mutter kennen, welche am 20. September 1954 in Liverpool geboren wurde. Die beiden heirateten und er eröffnete seine eigene kleiner Sicherheitsfirma mit Hilfe von seinem Ersparten und Unterstützung von Mummy und Daddy. Die Firma wuchs schnell weiter, sodass die beiden bald dadurch ein solides Einkommen hatten. Dann wurde ich geboren. Als ich drei Jahre alt war, beschloss mein Vater, es wäre Zeit, seine Firma nun auch in andere Ecken des Landes zu bringen. Er überließ die Leitung der Filialen in Liverpool und Umgebung einem alten Studienkollegen und Freund, welcher fast von Anfang an in der Firma mitgearbeitet hat, um in Southampton eine Zweigstelle zu errichten. Auch diese lief schnell gut an, weshalb immer mehr Filialen eröffnet wurden. Jetzt haben meine Eltern beschlossen, es wäre mal wieder Zeit für etwas Neues, weshalb wir nun nach Windsor ziehen. Mittlerweile macht mein Vater auch fast nur noch Papierkram und arbeitet nur noch mit wirklich wichtigen Kunden an Sicherheitskonzepten. Und selbst bei denen macht er vor allem die Öffentlichkeitsarbeit und lässt andere am Ende die Konzepte erstellen, die er dann als seine eigenen verkauft. Meine Mutter hat von Anfang an nicht gearbeitet. Sie spielt in ihrer Freizeit Tennis und Polo, geht gerne zu Pferderennen oder gibt das Geld meines Vaters beim Shoppen aus. Ich selbst habe bisher Privatunterricht gehabt, doch jetzt wo es auch in der Nähe von zu Hause eine tolle Schule gibt, darf ich dahin gehen." Ich sah auffordernd zu der Frau, die mir gegenüber saß, und offensichtlich versuchte alle Sachen, die ich gerade erzählte schnell genug zu überprüfen. Doch sie schien nicht ganz mitzukommen. Schließlich nickte sie langsam.
„Scheint alles richtig zu sein. Ich brauche noch deine alten Sachen. Die Cunninghams werden dir gleich auch neue Kleidung mitbringen." Ich schob den Rucksack über den Tisch. Ich hatte schließlich nie damit gerechnet, sie behalten zu dürfen. Ich legte auch keinen großen Wert auf den Rucksack und die Kleidung darin. Alles Wichtige von mir lagerte bei Ares im Olymp.
„Dein Medaillon." Mrs Falgoust streckte auffordernd ihre Hand aus. Ich schüttelte leicht den Kopf.
„Nein, das ist meins."
„Ich weiß, ein altes Familienerbstück. Deshalb könnte dich dein Vater daran erkennen."
„Wenn er mich sieht, erkennt er mich auch ohne das Medaillon."
„Deshalb wirst du dir ab jetzt die Haare blond färben und farbige Kontaktlinsen tragen." Ich verdrehte die Augen. Ich zweifle ein wenig daran, dass diese zwei Veränderungen ausreichen würden, damit mich mein eigener Vater nicht mehr erkennt.
„Ach ja, und du kriegst eine Brille."
„Die perfekte Tarnung", meinte ich sarkastisch.
„Jetzt gib bitte dein Medaillon her. So sind nun einmal die Vorschriften." Ich wurde auffordernd angesehen. Automatisch griff ich nach Ares. Er war alles, was ich an Familie hatte.
„Wenn dein Vater gefasst ist, kriegst du es wieder."
„Kann ich es nicht behalten, wenn ich verspreche es nicht zu tragen?" Erneutes Kopfschütteln. Eigentlich hatte ich auch gar nicht damit gerechnet, ich dürfte das Familienerbstück wirklich behalten. Ich seufzte leise, bevor ich vorsichtig das Schmuckstück abnahm. Zögerlich legte ich es auf den Schreibtisch.
„Es wird hier gut aufbewahrt werden." Die Finger schlossen sich um das goldene Metall, weshalb in mir die Panik losging. Hoffentlich würde ich ihn mir tatsächlich zurückklauen können.
Es klopfte an der Tür des kleinen Büros. Automatisch verschränkte ich die Arme, während ich mich auf den Drehstuhl so drehte, dass ich den Eingang im Auge hatte.
„Herein!" Die Tür ging auf. Eine leicht braungebrannte Frau stand darin. Ihre Haare kurzen Haare standen wie Stacheln in alle Richtungen in die Luft. Sie waren in einem Schönen bordeauxrot gefärbt. Einen interessanten Kontrast bildeten die dunkelblauen Augen, welche genauso unnatürlich wirkten wie die Haarfarben.
Auf den ersten Blick wirkte sie wirklich sympathisch. Wenn das meine Privatlehrerin werden sollte, konnte es nicht allzu schlecht werden. Ich musterte die Frau genauer. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Die Nase, die Gesichtszüge, sie erinnerte mich an die kleine Nymphedora mit ihren gold-gelben Haaren. Diese hatte allerdings eine ganz andere Augenfarbe gehabt. Ob die Frau vor mir auch einfach Kontaktlinsen trug, wie ich es demnächst machen sollte?
„Guten Tag, mein Name ist Nymphedora Tonks. Ich bin die verdeckte Ermittlerin." Ich grinste zufrieden. Mein Gedächtnis hatte mich also auch heute nicht im Stich gelassen. Die Rothaarige war also auch das Teenagermädchen mit den gold-gelben Haaren.
„Hallo, Rona." Ich wurde angegrinst. Offensichtlich hatte auch Nymphedora Tonks unsere erste Begegnung ebenfalls nicht vergessen.
„Sie sind die verdeckte Ermittlerin?" Die Frau grinste richtig breit und glücklich. Sie schien sehr stolz auf diese Aufgabe zu sein.
„Ja, bin ich."
„Und sie wollen - ähm – so als Hauslehrerin und Nanny einer reichen Familie auftreten?" Klares Kopfschütteln war die Antwort.
„Ich komme gerade von einem anderen Auftrag und werde mich gleich noch umziehen. Muss Rona offensichtlich auch noch." Leichtes überfordertes Nicken von Mrs Falgoust war die Antwort.
Es klopfte erneut an der Tür. Neugierig drehte ich mich wieder dorthin, um auch den nächsten Besucher sofort in Augenschein nehmen zu können. Auch wenn ich mir denken konnte, wer gerade eingetroffen ist. Jetzt fehlten nur noch meine neuen sogenannten Eltern.
„Ja?" Auch Mrs Falgoust blickte neugierig den Neuankömmling entgegen. Dieses Mal streckte ein mir unbekannter Mann den Kopf in den Raum. Mit Sicherheit war es nicht Mr Cunningham.
„Die Cunninghams sind soeben eingetroffen. Sie sitzen mit Mr Martin im Besprechungsraum drei."
„Ich komme sofort. Mr Johnson, würden sie bitte Mrs Tonks und Ms Smith zeigen, wo die beiden sich umziehen können?" Nicken von dem Mann. Mrs Falgoust räumte ein paar der Akten zusammen, die sie vor sich ausgebreitet hatte.
„Mrs Tonk, fragen sie bitte noch einmal Rona in Bezug auf ihre Lebensgeschichte ab. Und gehen sie ihre Eigene noch einmal durch. Ich vermute, sie haben diese auch schon erhalten?"
„Natürlich habe ich das. Kommst du, Rona?" Nymphedora drehte sich um. Dabei schmiss sie mit ihrem Arm mehrere der Gegenstände auf dem Schreibtisch herunter. Unter anderem mein heiliges Medaillon.
„Tut mir leid." Sie begann die Dinge wieder aufzulesen. Dabei tauschte sie innerhalb von wenigen Sekunden mein goldenes Schmuckstück gegen eine Replik. Ich schluckte schwer. Offensichtlich wusste sie, wie wichtig dieses kleine, unbedeutsam wirkende Stück Metall war. Das konnte nur eines bedeuten. Sie hatte in irgendeiner Weise Verbindungen zu magischen Welt. Wahrscheinlich war sie selbst eine Hexe.
Eine Friseurin zog an meinem Haaren rum. Ziemlich unvorsichtig strich sie immer wieder mit der Bürste durch sie hindurch. Sie blieb an Knoten hängen, weshalb es schrecklich an meinen Haaren zog. Ich hatte meine Finger in die Lehne meines Stuhl gekrallt. Nicht weil es mir so sehr wehtat. Mit dem Ziehen kam ich eigentlich klar, doch ich hatte wirklich große Lust gerade das Messer aus meinem Ärmel in meine Hand rutschen zu lassen und es der sogenannten Friseurin einmal in die Hand zu rammen, damit sie mich das endlich selber machen ließ.
Die Tür zu dem Raum wurde erneut geöffnet. Neugierig sah ich hin. Nymphedora kam herein. Sofort machte sich richtig Enttäuschung in mir breit. Ihre kurzen, roten Haare waren nun wieder lang. Nicht so lang wie die meinen, doch sie fielen problemlos über die Schulter bis zu den Schulterblättern. Auch die Haarfarbe war nun eine ganz andere. Ein dunkles schwarzbraun, wie auch ich es trug. Jedenfalls jetzt noch.
Auf dem Abstelltisch der Friseurin stand schon ein ekelhaft stinkendes Zeug, was meine Haare in ein dunkles blond verwandeln sollte. Die Haarfarbe, die ich von meiner Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte, laut meiner Vorgeschichte.
„Sie sehen wirklich langweilig aus, Mrs Whittaker. Oder soll ich jetzt noch Nymphedora sagen?"
„Du kannst mich die ganze Zeit beim Vornamen nennen."
„In meiner Vorgeschichte steht, ich nenne sie Mrs Whittaker. Also werde ich das auch brav tun."
„Na gut, Charlotte Cunningham. Wie du meinst." Sie ließ sich auf einen Stuhl neben mich fallen. Kaum saß sie, streifte sie sich die Pumps von den Füßen. Beim laufen hatte sie es allerdings noch geschafft, so zu wirken, als würde sie öfter, solche Schuhe tragen.
Insgesamt würde ich die braunhaarige Frau, nicht mit der Nymphedora Tonks in Verbindung bringen, die ich kannte. Weder mit dem Teenagermädchen noch mit der rothaarigen Frau. Dabei waren beide mir sympathischer als die Frau, die neben mir saß.
In den teuren Klamotten, die maßgeschneidert wirkten und den braunen Haaren, wirkte sie so normal. Genau so, wie man sich die Nanny und Hauslehrerin einer reichen Familie vorstellte, die man auch ruhig auf einer der Gartenparties sehen konnte. Natürlich würde sie dort auch noch immer zu den niedrigen gehören, doch ein paar nette Worte, was für eine tolle Schülerin sie hatte und wie schön doch das Wetter war oder ähnlicher unbedeutsamer Quatsch. Ob ich später genauso fremd wirken würde? Würde ein Blick in den Spiegel genügen, damit ich mich selbst nicht mehr erkennen würde?

Hexagramm - SchlangenbrutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt