Eine warme Hand fasst sanft Brentons Rücken an. Er zuckt kurz erschrocken zusammen und dreht sich um. Große grüne Augen schauen ihn besorgt an. Die faltige Hand streicht sanft seine Backen, „Geht es dir gut mein Sohn? Du siehst so blass aus!"
Brenton zwingt sich ein Lächeln und schüttelt mit dem Kopf, „Mir geht's gut!". Dann wirft er noch kurz einen Blick auf die schwarze Limousine, die hinter einer Kreuzung verschwindet.
„Lass uns nach Hause gehen! Ich habe das Auto ein paar Meter weiter drüben geparkt", die Mutter zeigt auf einen weißen Mercedes. Schweigend folgt er seine Mutter. Sie öffnet dann die Tür für Brenton, so als er unfähig wäre alleine eine Tür aufzumachen.
Brenton beobachtet genau das Auto. Im Auto befinden sich viel mehr Knöpfe als vor 10 Jahren. Die Sitze sind bequemer und das Auto hat eine viel größere Motordrehzahl. Seine Mutter schaut ihn lächelnd an, „Das Auto hat sogar eine Po Heizung", berichtet die Mutter stolz. Brentons Augen weiten sich. Ist ja verrückt! Die Mutter dreht den Zündschlüssel und der Motor geht an. Dann tippt sie auf einen großen Knopf. Ein Bildschirm, wie im Fernsehe, erhellt sich. Sie tippt dann auf den Bildschirm und plötzlich spielt das Auto Musik. Grauenhafte Musik, indem die Stimme des Sängers komplett mit Computer manipuliert wird. Brenton verzieht angewidert das Gesicht, „Ist das die Musik, die heute in den Charts laufen?"
„Das hören, die Leute in deinen Alter heute gerne an. Gefällt es dir nicht?", fragt die Mutter unsicher.
Brenton schüttelt mit dem Kopf. Die Mutter schaltet dann die Musik aus. Es herrscht eine unangenehme Stille. Brenton hätte nun doch lieber die Musik angehört, als die grauenhafte Stille zu hören. Er würde ja seine Mutter so vieles gerne erzählen. Ihr erzählen, was in den letzten Jahr beziehungsweise letzten zehn Jahre passiert ist. Was er alles durchleben musste. Doch das darf er nicht. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Jedoch könnte sie ihm erzählen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. Wie es seiner Familie geht. Was sie jetzt machen.
Brenton beißt sich auf die Lippe, „Mom?"
Seine Mutter schaut ihn liebevoll an, „Ja?", doch dann muss sie wieder auf die Straße gucken.
„Wie geht es euch? Dir und Jasmin?"
Die Mutter seufzt, „Es ist so viel passiert, seit du verschwunden bist. Aber uns geht es prinzipiell gut. Ich mein, du bist wieder da. Du bist plötzlich aus dem Nichts zurückgekehrt", ihre Augen füllen sich mit Tränen und ihre Stimme wird brüchig. Man kann den Schmerz aus den letzten Jahren klar in ihr sehen, „Aber kommen wir jetzt zu dir mein Sohn. Kannst du dich wirklich an nichts aus den letzten Jahren erinnern? Wirklich gar nichts? Du kannst mir vertrauen, das weißt du, oder?"
Brenton schluckt den dicken Kloß in seinen Hals. Er schaut aus dem Fenster und schweigt. Seine Mutter schaut ihn verzweifelt an. Er dreht sein Kopf wieder zu ihr um, „Ich kann mich erinnern, dass ich euch sehr vermisst habe. Dass ich mich alleine gefühlt habe. Dass ich Angst hatte."
Nach zehn Minuten Fahren, kommen sie zuhause an. Brenton beobachtet sein Haus genau an. Von außen hat sich nicht viel verändert. Außer, dass der Garten durch Steinpflaster ersetzt wurde und das Garagentor nun automatisch durch Knopfdruck aufging.
„Ich werde dir was zum Essen machen", erklärt die Mutter, die aus dem Auto aussteigt. Brenton läuft das Wasser im Mund. Seit einer Woche musste er ekliges Pappessen aus dem Krankenhaus essen. Nun hatte er wirklich Lust auf was Gescheites.
Als sie das Haus betreten, saugt Brenton den familiären Duft tief ein. Er hat einfach diesen Duft von zuhause vermisst. Diesen Duft, indem man sich gleich wohl fühlt. Für Brenton war dieser Duft immer selbstverständlich gewesen, wie für die meisten Menschen. Viele Sachen in seinem Leben waren für ihn selbstverständlich gewesen. Doch als er um sein Leben kämpfen musste. Als er um sein Leben fürchten musste, waren es solche kleinen Dingen, an denen er sich erinnerte und ihm Geborgenheit schenkten.
Brenton schaut sich in sein Haus um und betrachtet alles ganz genau. Es hat sich nicht vieles geändert. Außer die ganzen elektronischen Geräte! Doch daran muss sich Brenton wahrscheinlich drangewöhnen. Ansonsten schaut sich Brenton nach seine Schwester um. Seine Mutter merkt seine suchende und verzweifelte Blicke, „Sie ist nicht hier! Sie schläft heute bei Eleonor!", die Mutter schaut ihn mitleidig an, „Es tut mir le..."
„Ist schon ok!", Brenton winkt seine Mutter ab. Natürlich ist er enttäuscht, dass seine Schwester ihn nicht sehen will, doch er versteht es auch. Es muss ziemlich komisch sein seinen älteren Bruder zu sehen, der nicht gealtert ist und der sich anscheinend an die letzten zehn Jahre nicht erinnert. Die Mutter geht bedrückt in die Küche und fängt an zu kochen. Währenddessen setzt sich Brenton erschöpft auf dem Sofa hin. Während er starr auf dem Boden schaut, entdeckt er, wie eine Kante eines länglichen Buches, unterm Sofa erscheint. Brenton beugt leicht sein Kopf zur Seite, um das Buch besser zu erkennen. Somit nimmt er das Buch unterm Sofa heraus. Auf dem Buch steht groß- und fettgedruckt FOTOALBUM. Brenton lächelt. An dieses Fotobuch kann er sich gut erinnern. Er öffnet irgendeine beliebige Seite am Ende des Buches auf. Auf einem Bild sieht er seine Schwester. Sie muss da zirka elf Jahre alt gewesen sein. Sie lächelt fröhlich und zeigt stolz ihre Tanzmedaille. Auf einem nächsten Bild ist sie 15 Jahre alt. Sie trägt ein langes rotes Kleid und tanzt mit irgendeinen Typ. Diese lachen sich verliebt an. Brenton merkt, wie er diesen Typ auf dem Bild nicht leiden kann. Der Typ hat nichts bei seiner Schwester verloren! Brenton blättert weiter und weiter. Er verschluckt förmlich die Bilder auf. Irgendwann schlägt er das Buch zu. Er spürt, wie ihm sein Hals austrocknet und sein Herz buchstäblich zerdrückt wird. Er hat all diese Jahre verpasst! Er ist nun, wie ein Fremder in seine eigene Familie.
Plötzlich setzt sich seine Mutter neben ihn hin, „Die Lasagne ist in zwanzig Minuten fertig!", lächelt sie Brenton glücklich an. Ihr Lächeln verschwindet, als sie das Fotoalbum sieht. Sie nimmt es dann sanft aus seinen Händen. Sie schlägt eine Seite auf und zeigt auf einen Foto. Auf dem Bild ist Brenton 14 Jahre alt. Er spielt mit seiner vierjährigen Schwester im hellblauen See. Sein Vater grillt und seine Mutter sonnt sich auf eine Matte.
„Das ist mein Lieblings Bild! Da waren wir noch alle zusammen!", flüstert die Mutter traurig.
„Ich kann mich genau an den Tag erinnern. Wir hatten über 40 Grad. Papa hat dann die Schule angerufen und gesagt es sei ein Notfall. Doch in Wirklichkeit brauchte er bloß eine dumme Entschuldigung um mich aus der Schule zu holen, damit wir als Familie, bei der Hitze in den See gehen konnten", erzählt Brenton lachend.
Brentons Mutter schaut ihn mit Tränen in den Augen an. Dann traut sie sich die Frage zu stellen, die in ihren Kopf seit dem Tag, an dem Brenton zurückgekehrt ist, hämmert.
„Ist dein Vater... tot?"
Brentons Lächeln verschwindet und sein Gesicht wird ernst. Düster. Kalt. Er beißt sich auf seine Unterlippe. Er kann ihr doch nicht verschweigen, dass sein Vater, ihr Mann, tot ist, oder? Sie hat das Recht das zu wissen? Sie muss nicht wissen, wie er gestorben ist, aber sie hat das Recht zu wissen, dass er nicht mehr lebt. Bilder erscheinen in Brentons Gedächtnis auf. Bilder, in denen sein Vater mit einem blutigen Loch im Schädel leblos auf dem Boden liegt.
„Vater ist tot!"
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Verlorene Zeit
Science FictionWas wäre, wenn du für 10 Jahre verschwinden würdest und plötzlich wieder auftauchen würdest? Was wäre, wenn die Zeit für dich buchstäblich stehen geblieben ist und für alle anderen nicht? Was wäre, wenn deine Freunde plötzlich 10 Jahre älter sind al...