Kapitel 7.

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Nora

Gerade aus. Rechts. Tür links und Treppe runter.

Oder war es Tür rechts?

Verwirrt drehe ich mich 180 Grad im Kreis und versuche mich an Leons
Wegbeschreibung zu erinnern.

Warum hatte ich nicht besser zugehört? Oder wenigstens noch einmal nach gefragt?

Ich habe keinen Blassen wie ich aus diesem Labyrinth von Haus jemals wieder herausfinden soll.
Warum hat Leon mir nicht gleich eine Karte mit der kompletten Hausansicht gebastelt, oder noch besser, ein Navi in die Hand gedrückt.

Und zurück in Leons Zimmer konnte ich nicht, denn aus welcher Richtung ich gekommen bin, ist mir schleierhaft.

„Verdammt, das kann doch nicht so schwer sein!", versuche ich mich zusammen zu reissen.
„Es ist doch nur ein verdammtes Haus!"

Links. Er hat ganz bestimmt Tür links gesagt.

Entschlossen durchquere ich also den breiten Flur und stosse die erst beste Tür auf.

Fehlanzeige.

Das hier sieht aus wie ein Büro.

Ich ziehe die Tür wieder ins Schloss und nehme die Nächste in Augenschein.

Vorsichtig öffne ich sie.

Badezimmer.

Und was für eines.

Die Wände glitzern golden und in der Badewanne hätte eine ganze Familie Platz gehabt. Samt Hund.

Der vergoldete Spiegel an der Wand füllt die ganze Fläche aus und auf dem Marmortresen über dem Lavabo stehen unzählige teuer aussehende Fläschchen und Döschen.
Heilige Makkaroni. Dieses Badezimmer glänzt mehr als meine Zukunft.

Trotzdem ist es nicht das, was ich suche und leise fluchend ziehe ich die Tür wieder zu.

Die letzte Tür im Flur ist weiss.
Was für eine Überraschung.

Ich versuche mein Glück und stosse die Tür, dieses mal etwas weniger vorsichtig, auf.

Der Raum ist eher klein und scheint so gar nicht in dieses Haus zu passen.

Ein grosses Bett beansprucht den grössten Teil des Zimmers. Eine zerknautschte Decke ist gleichgültig zur Seite geworfen worden und ein Kissen liegt daneben auf dem Fussboden.
Überall stapeln sich Bücher und Kleidungsstücke und lassen den Raum noch chaotischer wirken.

Aber im ersten Moment habe ich gar keine Zeit, dies alles wahrzunehmen, denn mein Blick fällt sofort auf den Schreibtisch, wo ein Junge sitzt und etwas zu lesen scheint.

Naja, jedenfalls tat er das, bis ich ihn mit meiner unrücksichtsvollen „Ich-such-die-richtige-Tür-Aktion" dabei störe.

Verwirrt und mit hochgezogener Augenbraue mustert Nico mich von Kopf bis Fuss.
Peinlich berührt trete ich einen Schritt zurück und suche verzweifelt nach passenden Worten in meinem Kopf.

„Es... ich... tut mir leid, ich wusste nicht, dass du... dass das hier dein Zimmer ist", hasple ich völlig aus der Fassung gebracht.

Nico klappt das Buch zu und steht langsam auf.
Leise schiebt er den Stuhl zum Pult, überbrückt die drei Meter die uns trennen und baut sich in voller Grösse vor mir auf.
Und Nico ist gross. Vor allem wenn er so direkt vor mir steht. Sehr verunsichert blicke ich nun hoch in seine grünen Augen.
Jap, Tschau Kakao.

Nico hebt die Hand und im ersten Moment zucke ich heftig zusammen.
Keine Ahnung, vielleicht habe ich tatsächlich kurz damit gerechnet, dass er mich schlagen will.

Stattdessen zeigt er aber an mir vorbei auf die Tür gegenüber seines Zimmers und erklärt: „Du musst diese Tür da nehmen, dann die Treppe runter, durch das Wohnzimmer und dann kommst du zur Haustür."

„Ähm haha. Danke ich... dieses Haus ist einfach riesig", plappere ich darauf los und mache noch einen Schritt rückwärts.

Gerade als ich mich umdrehen und schreiend davon stürmen will, fällt mein Blick auf das Buch in Nicos Hand. Es handelt sich dabei tatsächlich um das Stück von Shakespeare, welches wir gerade in Englisch lesen.

Natürlich, wir müssen die ersten Akte bis morgen lesen. Das sind Hausaufgaben.

Aber um ehrlich zu sein, hätte ich nicht damit gerechnet, dass Nico das Buch auch wirklich lesen wird.

Schon oft genug musste er den Unterricht verlassen, weil er die Hausaufgaben nicht erledigt hatte oder im Unterricht einfach eiskalt eingepennt war.

„Du machst Hausaufgaben?", platzen die Worte auch schon aus mir heraus, bevor ich es verhindern kann.

Nico zieht die Nase kraus und macht eine etwas beleidigte Miene.

„So unwahrscheinlich, dass ich lesen kann?"

„Ja. Äh nein, ich meine natürlich nicht, aber du...die anderen sagen...", stottere ich, ohne wirklich zu wissen, was ich eigentlich sagen will.

„Was sagen die anderen?", fragt Nico interessiert und stützt sich neben mir am Türrahmen ab. Leicht spöttisch zieht er die Augenbraue hoch.

Oh mein Gott bin ich gerade peinlich. Ich muss mich echt dringend aus dieser Situation retten.
Ich labbere hier gerade den grössten Mist der Weltgeschichte zusammen und niemand stoppt mich.

Aber es stimmt ja trotzdem irgendwie. Erst gerade gestern hat mir Lynn, ein Mädchen aus dem Mathekurs, erzählt, dass Nico schon zum dritten Mal diesen Monat zum Direktor musste.

Alle wissen, dass er sich kein bisschen anstrengt, um gute Noten zu erzielen oder wenigstens irgendwie im Unterricht mitzukommen.

Keine Ahnung warum er überhaupt ein Gymnasium besucht, wenn sein Motto ganz offensichtlich „I don't give a fuck" lautet.

Nico mustert mich immer noch abwartend, doch ich beschliesse, ihm die Antwort schuldig zu bleiben.

„Egal. Tut mir leid, dass ich hier rein geplatzt bin. Ich sollte jetzt besser gehen..."

Beinahe enttäuscht seufzt Nico und nickt.

„Okay. Aber tu mir einen Gefallen und glaub nicht alles, was die Anderen erzählen... vor allem wenn dieser Andere mein Bruder ist."

Ich habe mich schon halb abgewandt, aber mit dieser Aussage habe ich nicht gerechnet, weswegen ich mich noch einmal zu dem  Jungen umdrehe.

„Was meinst du damit?", frage ich stirnrunzelt, doch Nico zuckt nur mit den Schultern.

„Keine Ahnung, frag doch die Anderen."

Und mit diesen Worten schlägt er mir die Tür vor der Nase zu.

Zwei Sterne am NachthimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt