Kapitel 32.

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Nora

Ich hatte nie vorgehabt, Nico auf seine Stiefmutter anzusprechen. Es war schliesslich seine Sache und nicht meine.
Aber als wir plötzlich zu zweit in diesem Wagen sassen, da wurde ich einfach wütend. Die Worte sind mir einfach rausgerutscht.

Es war nicht nur wegen heute Mittag. Auch, aber nicht nur. Ich meine, alle haben sich Sorgen um ihn gemacht. Ich habe mir Riesensorgen gemacht. Und dann chillt er einfach in diesem blöden Strandkorb und schlummert friedlich vor sich hin.

Jetzt war mein Frust aber abgeklungen und Nicos letzte Worte hallen noch in meinem Kopf. Ich nenne Emily nicht demonstrativ bei ihrem Vornamen, sondern weil sie es so will.

Was sollte das denn heissen? Dass sie Nico nicht als ihren Sohn sieht? Dass sie nicht will, dass er sie „Mom" nennt? Das kann ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen.
Emily war eine liebe Person, so wie Mutter. Etwas oberflächlich vielleicht, aber sie war stets freundlich zu mir gewesen.
Ich hab sie genug oft mit Leon reden gesehen, um zu wissen, wie sehr sie ihn liebte. Warum sollte es bei Nico anders sein?

Verwirrt schüttle ich meinen Kopf und greife nach meinem Pyjama, um mich Bett fertig zu machen. Es ist zwei Uhr morgens und höchste Zeit um schlafen zu gehen, wenn ich morgen in der Schule irgendetwas verstehen will. Ich war noch nie eine Nachteule und spüre den Schlafmangel bereits jetzt.

Billy hat sich auf der Fussseite meines Bettes zusammengerollt und schlummert bereits friedlich. Ich will gerade meine Bettdecke hochziehen, als mein Blick auf den grauen Pulli fällt, der über meinem Bettpfosten hängt. Nico hatte ihn im Auto ausgezogen, damit Billy darauf schlafen kann, was neben bei bemerkt echt niedlich von ihm war. 

Vielleicht sollte ich ihn noch in die Waschmaschine schmeissen, damit ich ihn Nico morgen zurück geben kann.

Seufzend schäle ich mich also wieder aus der gemütlich warmen Decke und greife nach dem grauen Stoff. Barfuss tapse ich durch das Haus, in die Waschküche.

Gerade als ich das Kleidungsstück in die Waschtrommel werfen will, spüre ich einen harten Gegenstand zwischen meinen Fingern. Ich stutze.
Sorgfältig breite ich den Pullover vor mir aus und suche in den Taschen nach besagtem Gegenstand. Meine Finger ertasten eine kleine Kartonverpackung die ich jetzt verwundert in meinen Fingern umherwandern lasse. Es ist zu dunkel, um die Buchstaben darauf zu entziffern, vermutlich sind es Hustenbonbons oder so.
Ich sollte sie jedenfalls besser nicht waschen.

Ich starte also die Waschmaschine und mache mich schleunigst auf den Weg zurück in mein warmes, kuscheliges Bett.

Nicos Verpackung lege ich auf meinen Nachttisch, bevor ich mich in mein Bett kuschle und will gerade die Augen schliessen, als mein Blick nochmals zum Nachttisch schweift. Im Flur brennt Licht, diesmal kann ich die Buchstaben entziffern.

Plötzlich bin ich wieder hellwach.

Benzodiazepine.

Meine Eltern sind Ärzte, ich weiss also genau, was sich in dieser kleinen Schachtel befindet und es sind leider keine Hustenbonbons. 
Trotz der warmen Decke ist mir plötzlich ganz kalt zu mute. Ich verlasse zum zweiten Mal in dieser Nacht mein Bett und setze mich an den Schreibtisch. Mein Computer ist noch an und ich gebe mit leicht zitternden Fingern den Suchbegriff ein.

Benzodiazepine. Schlaftabletten.

Warum braucht Nico Schlaftabletten? Es kann doch nicht normal sein solche starken Tabletten einfach so mit sich herum zu tragen. Oder?

Ich klicke auf das erst beste Suchergebnis und überfliege hastig den angezeigten Text. Vieles davon ist mir bereits bekannt.
Benzodiazepine sind angstlösende Schlaf- oder Beruhigungsmittel zur Behandlung von schweren Schlafstörungen, Angstzuständen, Muskelverspannungen, Epilepsien, Panikzuständen und ähnlichen Erkrankungen. Sie können auch bei körperlichen Entzugsbehandlungen eingesetzt werden.
Erst als ich zu der Rubrik „Nebenwirkungen" komme, stutze ich.

Müdigkeit. Benommenheit.

Vor meinem inneren Auge sehe ich Nicos dunkel Augenringe, wie er schläft im Unterricht, den Kopf auf die Arme gestützt.

Beeinträchtigung der Konzentrations-und Leistungsfähigkeit.

Verminderung des Reaktionsvermögen.

Nico der zerknautscht im Türrahmen steht,
der heruntergefallene Werkzeugkasten zu seinen Füssen.

Schwindel.

Ich schlucke schwer, als ich die lange Liste der Nebenwirkungen durchlese. Vieles davon kann ich direkt auf Nico zuordnen.

Ich will am liebsten gar nicht mehr weiter lesen, doch ich scrolle wie hypnotisiert durch unzählige Artikel und immer stosse ich auf ähnliche Begriffe.

Gefährliches Beruhigungsmittel.

Fatale Nebenwirkungen.

Machen schnell süchtig.

Überdosierung.

Es ist nach drei Uhr, als mein Laptop den Geist, alias Akku, aufgibt und ich mich am liebsten übergeben würde.
Ich habe mich nun genug lang mit den Tabletten auseinander gesetzt, um zu wissen, dass sie Nico auf keinen Fall gut tun. Ich hab keine Ahnung wie lange er die Dinger schon schluckt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er sie heimlich nimmt. Solche Tabletten werden selten jungen Leuten wie Nico verschrieben. Und Leon hat nie etwas davon erwähnt.

Erst als ich mich wieder in mein Bett gelegt habe, merke ich, wie kalt mir eigentlich ist. Meine Hände und Füsse fühlen sich beinahe taub vor Kälte an.
Mir ist bewusst, dass ich es jemandem sagen muss. Ich muss jemandem sagen, was mit Nico los ist. Wenn ich Nico selbst damit konfrontiere, würde er es möglicherweise abstreiten. Oder nicht auf mich hören.

Ich musste mich an jemanden aus seiner Familie wenden. Und leider viel mir da nur eine Person ein. Und genau bei dieser Person wollte ich mich eigentlich nie mehr melden.

Trotzdem greife ich jetzt nach meinem Handy und ohne lange zu zögern wähle ich Leons Nummer.

Zwei Sterne am NachthimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt