Kapitel 16.

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Nora

Die richtige Trauer kommt erst am nächsten Morgen.

Ich wickle gerade meine nassen Haare in ein Frotteetuch und versuche die dicken Tränen, die mir über die Wangen kullern, hartnäckig zu ignorieren.

Gestern war ich einfach nur wütend, frustriert und vermutlich sogar mordlustig eingestellt. Ich hasse Leon für seine Tat und will ihn am liebsten so schnell wie möglich vergessen.

Umso seltsamer ist es jetzt also, wie diese anderen Gefühle heute Morgen einfach über mich einprasselten. Wie eine eiskalte Regenschauer, auf die man nicht gefasst war. Und einen Schirm habe ich natürlich wieder einmal vergessen.
Der gestrige Zorn ist wie verebbt.
Ich fühle mich nur noch ausgenutzt, enttäuscht und wahnsinnig verletzt.

Ich habe das erste Klingeln meines Weckers ignoriert und auch die beiden weiteren.
Um neun Uhr habe ich Katie dann eine Nachricht geschrieben, dass ich heute nicht zur Schule kommen werde. Auch wenn sie das bestimmt selbst schon gemerkt haben musste.
Schliesslich hatten wir gleich am Morgen einen Kurs zusammen.

Später schaffte ich es dann endlich, mich unter die Dusche zu schleppen, aber dies hinderte die Tränen leider auch nicht daran, weiter um die Wette zu fliessen.

Ich fische mir, mit unscharfer Sicht, zwei random Kleidungsstücke aus dem Schrank und ziehe mich mühselig an.
Schniefend lasse ich mich wieder in mein umgemachtes Bett fallen und schalte den Fernseher ein.
Jetzt fehlt nur noch ein Glas Weisswein und der Song „All By Myself" und ich würde Bridget Jones aber sowas von Konkurrenz machen.

Ich versuche mich auf den alten Disney-Film zu konzentrieren, der gerade läuft und kraule dabei Billys Fell.
Der kleine Hund hat sich schon den ganzen Morgen an meine Fersen geheftet und lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Eine weitere Bestätigung dafür, wie einfühlsam Tiere sein konnten.

Auch jetzt dreht Billy seinen kleinen Kopf zu mir hoch, als ich ein lautes Schniefen ertönen lasse und winselt mich ängstlich an.

„Schon okay. Mir geht es gut, Kleiner", beruhige ich ihn und tätschle seinen pelzigen Kopf.

Ich zupfe mir das Handtuch vom Kopf und kuschle mich resigniert in meine Kissen zurück, in dem Moment klingelt es an der Tür. Einmal, zweimal und dann scheint jemand sehr Ungeduldiges den Klingelknopf zu verprügeln. Mürrisch verdrehe ich die Augen und will mich aus den Decken befreien, aber in dem Moment höre ich bereits polternde Schritte auf der Treppe. Zwei Sekunden später stürzt ein blonder Wirbelwind in mein Zimmer. Ohne eine Begrüssung drückt mich Katie in ihre Umarmung.

„Süsse, es tut mir...sooo leid!" , murmelt Katie in meine nassen Haare und tätschelt mir den Rücken.
Ich bin noch etwas zu perplex über ihren Überfall und noch nicht ganz fähig zu antworten.

„Er ist ein verdammter Hurensohn...", murmelt sie leise und löst sich von mir.

Ich schniefe laut und streiche mir frustriert meine jetzt ganz zerzausten Haare aus der Stirn. Warum kam denn heute alles nur schniefend aus mir?!

„Woher...weisst du überhaupt davon?", frage ich jetzt leise. Ich bin etwas zerknirscht, weil ich ihr selbst noch nichts davon gesagt habe.

„Naja, Nico hat es mir erzählt", meint Katie ohne grosse Umschweife und ich starre sie perplex an.

„Nico Brand?", frage ich trotzdem nach und Katie bringt ein Grinsen zustande.

„Natürlich Nico Brand, oder kennst du einen anderen Nico?"

„Nein... aber ... ich hätte nur nicht damit gerechnet...", gebe ich schliesslich zu.

„Ich ja auch nicht. Aber als ich mich heute zu Leon gesellen wollte, hat mich Nico aufgehalten und über die Sache aufgeklärt", erzählt meine beste Freundin jetzt.

„Er ist auf dich zu gekommen und hat es dir erzählt? Einfach so?", will ich trotzdem wissen.

Ich bin echt verblüfft und vergesse sogar für einen kurzen Moment zu schniefen.
Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sich Nico für mich einsetzen würde.

„Yes", bejaht Katie und zwängt ihre Beine unter die Bettdecke. Draussen ist es kalt geworden und die Heizung in meinem Zimmer funktioniert im Moment nicht wirklich. Unser Haus war schon älter und selten funktionierte etwas, wenn man es brauchte.

„Das ist echt...", murmle ich und suche nach dem angebrachten Wort.

„Sozial", beendet Katie meinen Satz und ich nicke. Ich wollte süss sagen, aber mein Gehirn war bestimmt noch etwas vernebelt von den ganzen Tränen.
Dass Nico auf Katie zugeht, damit sie nicht in ein Fettnäpfchen tritt, das war wirklich bewundernswert und aufmerksam von ihm. Vor allem, weil wir ja sonst nicht so das engste Verhältnis haben.

„Aber, warum ist Leons Bruder eigentlich so gut in die Sache eingeweiht? Ich meine, die beiden lieben sich ja nicht gerade?"

Katie hat natürlich ein Anrecht auf die wahre Geschichte von meinem kleinen Ausflug gestern mit Nico. Deswegen beginne ich nach kurzem zögern, ihr alles zu erzählen. Für einige Details fehlt mir jedoch die Kraft, ich erzähle alles möglichst kurz und sachlich und auch vom Strandkorb schweige ich. Ich halte es nicht für richtig, Nicos „geheimen" Platz einfach so auszuplaudern. Aber Katie ist auch so schon genug unterhalten.

„Krass! Du gönnst dir ja richtig. Erst Brand Nummer 1. und dann gleich Nummer 2.", lacht sie und klatscht sich begeistert in die Hände.

„Was? Nein, da ist doch nichts! Nico war nur gerade zur richtigen Zeit da wo ich ihn brauchte. Ich werde bestimmt eh nie wieder ein Wort mit ihm wechseln oder geschweige denn einen Fuss in dieses Haus setzen...und er ist halt seltsam", füge ich am Schluss noch hinzu.
Aber es fühlt sich eher an, wie ein Reflex. Etwas das ich sagen muss. Etwas das man von mir erwartet, dass ich über ihn sage.
Weil es alle sagen.

Aber um ehrlich zu sein, Nico ist mir nicht wirklich seltsam erschienen. Er ist ruhig, viel ruhiger als Leon. Aber ist er deswegen seltsam? Ich weiss es nicht, ich weiss nur, dass er mir wie ein normaler, etwas nachdenklicher aber einfühlsamer Teenager erschienen ist. Er hatte Rücksicht auf mich genommen, versucht mich zu trösten. Das war wirklich nicht selbstverständlich. Und um ehrlich zu sein, hatte ich mich an diesem Tag wesentlich seltsamer benommen als er.

Ich beschliesse Katie aber noch nichts zu sagen, geniesse nur ihre Anwesenheit, lege mein Kopf auf ihre Schulter und schliesse die Augen für einen Moment. Es ist so schön, eine beste Freundin wie sie zu haben.

Katie wirkt manchmal zwar laut und unbeschwert, aber sie weiss immer genau wie es mir geht, ist immer für mich da und weiss immer was ich gerade brauche.

Und im Moment reicht es völlig, wenn sie einfach neben mir sitzt und mit mir zusammen Disney Filme anschaut.

Zwei Sterne am NachthimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt