Kapitel 22.

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Nora

Es braucht einen Moment bis Nicos Worte bei mir ankommen. Ein emotionsloser Lacher entfährt mir und ich schüttle fassungslos den Kopf.

„Er kann nicht... er kann wirklich überhaupt nicht spielen?"

„Nope. Kein bisschen", bestätigt Nico schulterzuckend.
„Wenn es nach meinem Bruder gegangen wäre, hätte der Flügel-Raum ein Fitnessstudio werden sollen. Aber Emily spielt ab und zu Klavier also..."
Nico macht eine wegwerfende Handbewegung und ich lasse mich, immer noch fassungslos, auf den Stuhl neben ihm fallen.

„Ich glaub's nicht", meine ich schliesslich „Er hat also die ganz Zeit mehr geplant als nur ein Lerntreffen."

„Sieht so aus", sagt Nico und mustert abwesend die schwarzen und weissen Tasten des Klaviers.

Er wirkt auf irgendeine Art betrübt. Vielleicht will er gerade nicht über Leon reden und das kann ich ihm nicht verübeln. Schliesslich geht es mir genau so.

„Was spielst du denn gerade?", getraue ich mich schliesslich das Schweigen zu brechen. Nicos Blick schnellt zu mir, als ob er vergessen hätte, dass ich auch noch im Raum bin. Er mustert mich mit seinen grünen Augen, die so viel heller waren als die von Leon. Aber da war wieder dieser müde Ausdruck und erneut frage ich mich, warum er ständig so fertig aussieht. Ist ja nicht so, als ob er nicht genug Schlaf im Unterricht bekommen würde.

„Weiss nicht ob du's kennst", bemerkt Nico jetzt und ich brauche einen Moment, um zu verstehen, dass er auf meine Frage geantwortet hat. Nico deutet auf einige Papierbögen und ich beuge mich vor um den Titel des Stücks zu lesen.

Fly.

„Ludovico Einaudi", murmle ich anerkennend und Nico nickt mit dem Kopf.

„Ich liebe seine Stücke. Sie haben so etwas verträumtes und episches gleichzeitig", erkläre ich mit einem Lächeln. Zum entspannen, oder vor allem zum träumen, gibt es nichts besseres als klassische Musik. Und Einaudi Stücke haben was an sich, dass mich schon immer in ihren Bann gezogen hat. Ich kann's nicht wirklich erklären.

„Spielst du es mir vor?", bitte ich Nico, bevor ich darüber nach denken kann. Der Dunkelblonde scheint etwas überrascht, platziert dann aber gehorsam seine Hände auf den Tasten. Er hat schöne Hände mit langen Finger. Pianisten-Hände.

„Ich kanns noch nicht wirklich", erklärte Nico, als ich nichts sage, beginnt er dann aber zu spielen.

Als die ersten Töne erklingen, richte ich mich auf meinem Stuhl etwas auf, um einen besseren Blick auf seine Hände zu erhaschen. Sie fliegen flink über die Tasten, als ob sie tanzen würden. Seine Hände spielen so leicht, sie schweben beinahe über die Tasten, als ob sie sie gar nicht berühren würden.

Fasziniert beobachte ich, wie Nico sein Tempo steigert, seine Bewegungen schneller werden.
Langsam schweift mein Blick zu seinem Gesicht. Die Augen hat er leicht zusammen gekniffen. Er scheint die Noten nicht wirklich zu lesen, es ist als ob er durch sie hindurch sehen würde. Irgendwohin wo nur er sehen kann.

Und das erste mal ist der müde Ausdruck aus seinem Gesicht gewichen und hat einem ganz anderen Ausdruck Platz gemacht. Nico wirkt wirklich glücklich, es ist das erste mal, dass ich ihn so sehe, seit ich ihn kenne. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus, ohne dass ich weiss warum.

Viel zu schnell steigt Nico in den Schluss ein und hört auf zu spielen.
Der letzte Ton erlischt und Nico senkt den Blick. Aber das warme Gefühl in meinem Bauch bleibt. Es bleibt und breitet sich nur noch mehr aus.

„Das war...wow", murmle ich schliesslich in die plötzliche Stille und Nico hebt die Augen. Er lächelt leicht.

„Danke, aber es ist noch längst nicht gut genug"

„Gut genug für was?", hake ich nach.

„Gut genug für mich... denke ich", meint Nico und zuckt mit den Schultern.
Er bündelt seine Notenblätter und greift nach dem Rucksack, der neben mir am Boden liegt. Dabei streift sein Arm meine Schulter.
Aus unerklärlichen Gründen fühlen sich meine Wangen plötzlich heiss an und ein Kribbeln breitet sich in meinem Bauch aus.
Was ist hier los, verdammt?

Nico richtet sich wieder auf und stopft seine Notenblätter in die Tasche. Ein Wunder, dass sie noch nicht komplett zerknüllt sind, so wie er sie behandelt.

„Ich spiele eigentlich immer nur für mich", erklärt Nico plötzlich und ich schaue in fragend an.

„Wie meinst du das?"

„Ich übe immer hier und selten zu Hause und ich spiele nie jemandem was vor", fügt er dann hinzu und es klingt beinahe so, als ob er sich dafür schämen würde.

„Aber...warum denn nicht?", hake ich nach. Er spielt so gut, warum sollte er sich dafür irgendwie schämen.

„Schwierig zu sagen. Es ist beinahe so, als ob ich jemandem einen Einblick in meine Gedanken geben würde, in meine Privatsphäre. Keine Ahnung, klingt jetzt irgendwie bescheuert", erklärt er und ein unsicheres Grinsen, das ich noch nicht von ihm kenne, erscheint auf seinem Gesicht.

„Klingt es nicht. Ich... kann verstehen was du meinst.
Ich singe nie vor fremden Leuten. Ich kann das einfach nicht", gestehe ich und meine Wangen erröten erneut.
Ich liebe es zu singen und ich würde auch behaupten, ohne arrogant klingen zu wollen, dass meine Singstimme ganz in Ordnung ist. Ich meine, ich treffe die Töne und so. Ich singe ständig, aber vor fremden Leuten zu singen, das fühlt sich einfach falsch an. Wie Nico sagt, als ob man seine Gedanken für alle Öffentlich machen würde.

„Du singst?", fragte Nico überrascht und ich nicke leicht.

„Nur so für mich, aber ich gehe auch in den Schulchor. In einer Gruppe zu singen, ist was anderes als solo."

„Du weisst aber schon, dass du mir jetzt etwas schuldig bist?", fragt Nico  „ich hab dir vorgespielt, einmal musst du mir also etwas vorsingen, abgemacht?"

„Mal sehen", meine ich nur, „Vielleicht... irgendwann mal."

Mein Blick bleibt an seinem Gesicht hängen. Dem kleinen Muttermal auf seiner Wange und seinen langen dunkeln Wimpern, die vielleicht feminin gewirkt hätten, wenn seine restlichen Gesichtszüge nicht so markant gewesen wären.
Nicos grüne Augen funkeln. Je nach Licht wirken sie so hell wie Limetten. Auch jetzt blenden sie einem fast.
In dem Moment blendeten sie mir vermutlich auch gleich mein Gehirn aus dem Kopf, denn
ohne zu überlegen, beuge ich mich urplötzlich nach vorne, bis meine Nasenspitze die von Nico berührt und presse ohne zu zögern meine Lippen auf seine.

Der Junge erstarrt zuerst überrascht, aber dann erwidert er meinen Kuss. Nicos Lippen sind weich, weicher als die von Leon und er küsst auch anders. Komplett anders. Nicht so aufdringlich, nicht so wollend. Ich schliesse die Augen, spüre nur Nicos sanfte Berührung, meine Gedanken sind wie weggewischt.

Der Moment ist so schnell vorbei, wie er gekommen ist. Erschrocken fahre ich zurück und springe ruckartig von meinem Stuhl hoch. Einen Moment lang blinzle ich Nico sprachlos an, als ob er derjenige wäre, der mich so plötzlich überfallen und dann geküsst hat.

Und dann stürze ich Hals über Kopf aus dem Musikraum.

*angefügt: fly ~ ludovico Einaudi

Zwei Sterne am NachthimmelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt